Tichys Einblick
Neue Wege für Vorbeugung und Therapie

Die mRNA-Methode: Eine medizinische Revolution

Durch die Coronapandemie rückt die innovative Idee mRNA-basierter Vakzine in das Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit. Der diesem Ansatz zugrundeliegenden Methode wohnt allerdings das Potential inne, nicht nur die vorbeugende Impfung, sondern gleich die ganze Medizin zu revolutionieren. Weil sie es ermöglicht, das molekularbiologische Betriebssystem des Lebens gemäß unserer Interessen zu ertüchtigen.

imago images / Panthermedia

Auf der untersten Ebene seines Betriebssystems ist das Leben eine bemerkenswert tote Angelegenheit. Schließlich handelt ein Kohlenstoff-Atom weder bewusst noch absichtsvoll, wenn es sich mit anderen seiner Art zu Ketten und Ringen verbindet, in die an unterschiedlichen Stellen Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff integriert sind. Ein Molekül wie Glycin (H2N-CH2-COOH) entsteht eben nicht auf Grundlage eines Kalküls, sondern infolge einer zufälligen Begegnung seiner Komponenten unter den geeigneten Rahmenbedingungen. Und wenn sich diese einfachste aller Aminosäuren mit ihren größeren Vettern zu Makromolekülen aus vielen tausend Atomen verknüpft, steckt dahinter ebenfalls kein übergeordneter Wille. Proteine gibt es nicht, weil es sie geben soll. Sondern weil es sie in dem durch die Prinzipien der Physik gesteckten Rahmen unter irdischen Bedingungen geben kann.

Auch Phosphorsäure (H3PO4), ein Fünferzucker namens D-Ribose (C5H10O5) und heterozyklische Basen wie Adenin (C5H5N5) sind Zufallstreffer einer ziellosen Würfelei, in der alle machbaren Kombinationen aus den verfügbaren Elementen entstehen und nur jene weiter mitspielen, die sich als ausreichend stabil erweisen. Die drei genannten können sich beispielsweise zu einem sogenannten Nukleotid vereinigen. Ketten dieser Nukleotide schließlich bilden ein weiteres bedeutendes Makromolekül, die sogenannte Ribonukleinsäure oder RNA. Stellt nicht D-Ribose, sondern ein anderer, sehr ähnlicher Zucker namens 2-Desoxyribose (C5H10O4), die Kernkomponente des elementaren Nukleotids dar, ergibt sich entsprechend Desoxyribonukleinsäure oder DNA.

RNA, DNA und Proteinen wiederum wohnt das Potential inne, ihre Entstehung in einem überaus komplexen Reaktionssystem gegenseitig zu befördern. Wozu sie nicht allein aufgrund ihrer chemischen Komposition, sondern wesentlich auch durch ihre dreidimensionale räumliche Struktur befähigt sind. Basieren doch viele der in diesem Kontext stattfindenden Interaktionen nicht auf der Knüpfung oder Spaltung fester, kovalenter Atombindungen, sondern auf schwachen, elektrostatischen Kräften wie Wasserstoffbrücken oder van-der-Waals-Kräften. Und in welcher Form diese auf welches andere Molekül welche Wirkung ausüben können, hängt von der mitunter flexiblen Geometrie der beteiligten Partner ab. Die sich allerdings nur dann häufig und oft genug begegnen, wenn sie in einem begrenzten Volumen in ausreichend hoher Konzentration vorhanden sind. In wässriger Umgebung vermögen Fettsäuren oder Lipide solche Räume zu schaffen. Denn die Gesetze der Thermodynamik zwingen diese langen Ketten aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, einen Zustand möglichst niedrigen Energiegehalts einzunehmen und daher kugelförmige Strukturen auszubilden, die ein „Innen“ von einem „Außen“ chemisch und physikalisch trennen und daher Ballungen von Makromolekülen dauerhaft zusammenhalten können.

Eine Vielzahl plausibler Hypothesen beschreibt, auf welchen Wegen aus diesen Zutaten letztendlich Zellen und damit Strukturen entstanden sind, die man gemeinhin als „lebendig“ bezeichnet. Weil sie erstens ihre strukturelle Integrität bewahren, obwohl sie mit der Umgebung Materie und Energie austauschen, also einen Stoffwechsel aufweisen. Weil sie sich zweitens selbst in einem gewissen Umfang reparieren und erneuern können. Weil sie sich drittens in ihrer Gesamtheit zu duplizieren, also zu vermehren vermögen. Und weil sie viertens zur Anpassung an Veränderungen ihrer Umgebung, also zu einer Evolution fähig sind. In deren Verlauf manche Zellen sogar zu Formen des Zusammenspiels mit anderen gefunden haben und schließlich Verbünde bis hin zum Menschen aufkamen. So fügt sich selbstorganisiert Regelkreis auf Regelkreis, gestalten einfache Prozesse immer kompliziertere Muster bis hin zu Ausprägungen wie Selbstbewusstsein oder Intelligenz. Wer diese Fähigkeiten besitzt, neigt natürlich dazu, auch in den Vorgängen an den Wurzeln seiner Existenz Sinn und Zweck zu suchen und sie entsprechend zu deuten. Dies aber vermittelt ein falsches Bild.

Das so bezeichnete Immunsystem, einer jener höheren in Pflanzen und Tieren auftretenden chemischen Abläufe, wird beispielsweise häufig aufgrund seiner Wirkungen implizit wie ein zielgerichtet gestalteter Mechanismus beschrieben. Es wäre dazu in der Lage, „eigen“ von „fremd“ unterscheiden, heißt es in vielen Lehrbüchern, und diene einem Organismus daher zur „Abwehr“ von Eindringlingen, die ja potentiell gefährlich sein könnten . Tatsächlich „erkennen“ die beteiligten Proteine und Zellen überhaupt nichts, folgen keiner bestimmten Intention, werden nicht „trainiert“ oder „angelernt“. Lymphozyten, Makrophagen, Antikörper und die vielen anderen das Immunsystem bildenden Komponenten agieren äußerst stumpfsinnig in ihrer Umgebung. Ihr Vorhandensein erklärt sich vollständig aus ihrer Neutralität gegenüber dem DNA-RNA-Protein-Komplex. Sie richten schlicht zu selten einen ausreichend hohen Schaden an, um dauerhaft verworfen zu werden. Als Verteidiger körperlicher Reinheit dagegen sind sie in Wahrheit ziemliche Versager. Jeder Mensch trägt Billionen fremder Mikroben in sich, Bakterien, Pilze, Viren, manche nützlich, manche irrelevant, manche nur dann schädlich, wenn sie sich in bestimmten Geweben in zu hoher Zahl konzentrieren. Vom Immunsystem wird dieses Mikrobiom kaum behelligt. Und auch neu hinzustoßende Erreger breiten sich allzu oft ungestört aus. Wir werden nun einmal krank und sterben, was die prinzipielle Unfähigkeit der Immunabwehr deutlich belegt. Vielleicht sollte man diese eher als einen mikrobiologischen Stoffwechsel verstehen, der getrieben von chemischen Ungleichgewichten so manche plötzlich in großer Menge auftretende Struktur „verdaut“. Also in ihre Bestandteile zerlegt, die dann wiederum dem Aufbau anderer Verbindungen dienen. Dass diese Maschinerie auch potentiell gefährliche Keime als Nahrung verwertet, ergibt sich als gelegentlich vorteilhafter, aber im Grunde rein zufälliger Nebeneffekt.

In der Verknüpfung von DNA, RNA und Proteinen ist nun einmal nichts angelegt außer dem Fortbestand ihrer selbst. Effektivität oder Effizienz finden sich in diesem überaus komplexen chemischen Ablauf ebenso wenig wie Bedeutung oder Bestimmung. Und dies zieht sich durch alle auf diesem Fundament aufgebauten Prozesse und Konstruktionen. Ein Reaktionsmuster, dessen Existenz allein darauf beruht, einem breiten Spektrum destruktiver äußerer Einflüsse widerstehen zu können, verspricht weder Leistungskraft noch Beständigkeit einzelner auf seiner Basis entstandener Gefüge, von Einzellern bis hin zu menschlichen Individuen.
Ein bedauerlicher Umstand, dem allerdings abgeholfen werden kann. Das Wissen über geeignete Ansatzpunkte und Vorgehensweisen ist vorhanden. Galten in den Anfangsjahren der Mikrobiologie noch die Proteine aufgrund ihrer Vielfalt und ihrer zahlreichen Funktionen als Schlüsselkomponente, fokussierte sich die Forschung zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf die DNA. Glaubte man doch, in ihr die alles steuernde Instanz gefunden zu haben, deren Manipulation daher den Pfad zu Verbesserungen bahnt. Insbesondere die Erkenntnisse der letzten zwei Jahrzehnte aber enthüllten die RNA als vielversprechendsten Hebel. Nahezu jeder Weg zur Optimierung der biochemischen Basis allen Seins führt über dieses Makromolekül. Die Viren geben die Richtung vor.

Eine hohe chemische und physikalische Stabilität prädestiniert die DNA zwar als dauerhaften Datenträger, begründet aber gleichzeitig ihre darüber hinaus äußerst eingeschränkte Rolle. Schon ihre Transkription im Zellkern, also die Übertragung einzelner Informationspakete auf einen kleineren, beweglicheren und flexibleren Nachrichtenübermittler, wird von RNA-basierten Makromolekülen, den Polymerasen, gesteuert. Der Bote selbst ist ohnedies ein RNA-Strang, eine Messenger- oder mRNA, die den Zellkern verlassen und in das Cytoplasma der Zelle vordringen kann. Dort wartet mit den Ribosomen eine weitere RNA-Struktur, die durch die mRNA dazu veranlasst wird, die Reaktionsketten zu katalysieren, an deren Ende schließlich die diversen, für die Beschaffenheit und den Betrieb der Zelle zuständigen Proteine und RNA-Komplexe entstehen. Um diese zu modifizieren, genügt es also völlig, eine entsprechend gestaltete mRNA in eine Zelle zu schleusen. Die DNA selbst muss man nicht antasten, das eigentliche Erbgut nicht dauerhaft verändern, die innere, den Zellkern schützende Membran nicht auch noch überwinden. Stupide arbeiten die Ribosomen jeden ihnen vorgelegten Auftrag ab, ganz gleich, wer der Absender ist oder wie das Ergebnis aussieht.

Dies ermöglicht die Existenz von Viren, also RNA-Paketen, die die molekulare Werkstatt einer Zelle dazu veranlassen, nichts als Kopien ihrer selbst zu erstellen. Was die betroffene Zelle mindestens behindert, wenn nicht gar zerstört, ein weiteres Exempel für das miserable Design des biochemischen Betriebssystems . Wer dieses trotzdem als Kreation einer transzendenten Macht sehen will, kann nur zu dem Urteil gelangen, Gott sei ein ziemlicher Idiot gewesen. Menschliche Molekularbiologen sind glücklicherweise klüger.

Eine durch die Coronapandemie populär gewordene Option besteht zum Beispiel darin, dem Immunsystem auf die Sprünge zu helfen, damit es sich diese Bezeichnung auch verdient. Entsprechend gestaltete Boten-RNA könnten körpereigene Zellen dazu veranlassen, erregerspezifische Proteine zu produzieren, deren unvermitteltes Auftauchen eine Reaktion der Leukozyten provoziert. Sie werden dann im Falle einer tatsächlichen Infektion auch den Erreger selbst rascher und entschiedener neutralisieren, als es ihnen ohne diese Vorbereitung gelänge. Das Konzept ähnelt dem einer konventionellen Impfung, wobei allerdings der Körper selbst den Impfstoff herstellt. Die notwendige mRNA-Bauanleitung kann maschinell erzeugt werden, das heißt schneller und preiswerter verglichen mit aufwendig zu fabrizierenden herkömmlichen Vakzinen. Im globalen Rennen um einen mRNA-Impfstoff gegen SARS-CoV-2 belegen deutsche Firmen wie CureVac oder BioNTech vordere Plätze, wie Alexander Wendt in Ausgabe 5/2020 von Tichys Einblick beschreibt.

Wenn erst einmal die noch bestehenden technischen Probleme gelöst sind, zu denen unter anderem die Frage gehört, wie man artifizielle mRNA wirksam in die anzusprechenden Zielzellen einbringt, eröffnet das neue Konzept enorme Perspektiven. So spricht nichts dagegen, das Immunsystem nicht nur in seiner Abwehrfähigkeit gegenüber äußeren Gefahren, sondern auch zur Behebung interner Schäden zu ertüchtigen. Es etwa gegen mutierte Zellen zu richten, die durch charakteristische Veränderungen in ihren Membranen eindeutig identifizierbar werden. Eine solche „Impfung gegen Krebs“ verwischt die Grenze zwischen Vorbeugung und Therapie. Und das Immunsystem ist bei weitem nicht die einzige Schwachstelle unserer Biochemie. Man denke an Leiden wie Diabetes oder Neurodermitis, an Allergien oder Alzheimer, die letztlich alle auf zelluläre Fehlfunktionen zurückgehen. Und die Empfehlung eines „gesunden Lebenswandels“ angesichts sogenannter „Zivilisationskrankheiten“ wie Karies, Bluthochdruck oder Übergewicht drückt auch nur Resignation und Hilflosigkeit aus.

Nahezu jede Komponente einer Zelle ist aus RNA und Proteinen gebaut, nahezu jeder Prozess in ihr wird von RNA und Proteinen initiiert und reguliert, die allesamt anhand der Vorgaben konstruiert sind, die die mRNA aus dem Zellkern nach außen trägt. Hier einzugreifen ist daher mit der Chance verbunden, Verletzungen, Erkrankungen und alterungsbedingten Abnutzungserscheinungen mit völlig neuen Therapieansätzen zu begegnen. Unsere Zellen könnten sogar mit Entwürfen neuartiger, vom Menschen erdachter Makromoleküle versorgt werden, die bestimmten Aufgaben besser nachkommen als ihre natürlichen Pendants. Und da eine mRNA-Therapie die Erbinformation selbst nicht antastet, liegen die mit ihr verbundenen Risiken deutlich unter denen einer DNA-Manipulation.

Nichts in dem von toter Materie geprägten molekularen Betriebssystem des Lebens garantiert Gesundheit und Langlebigkeit einzelner Individuen. Der Anspruch, dies nicht einfach hinzunehmen, treibt den medizinischen Fortschritt seit den Anfängen der Heilkunde. Die mRNA-Methode stellt einen weiteren revolutionären Durchbruch in dieser Hinsicht dar. Von Anstreichern, die ein Haus nur äußerlich verschönern, werden Ärzte nun zu Bauingenieuren, die Konstruktionsmängel im Innenraum korrigieren.

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