Tichys Einblick
Nahles bekommt nur 66 Prozent:

Die SPD stolpert in ihre nächste Erneuerung

Niemand hat so viel Erfahrung mit Erneuerung wie die neue Vorsitzende. Nahles versprach, die Partei nach den schweren Niederlagen von 2009 und 2013 zu erneuern. Als Generalsekretärin erklärte Nahles die Erneuerung 2011 sogar„für abgeschlossen“.

© Simon Hoffmann/Getty Images

Andrea Nahles will die SPD erneuern. Doch die Partei traut es ihr nicht so recht zu, den Spagat zwischen GroKo-Tagesgeschäft und Partei-Aufbruch zu schaffen. 66,35 Prozent sind alles andere als ein glanzvolles Ergebnis. Damit bleibt Nahles sogar unter der selbst gesteckten Marke von 70 Prozent. Sie schnitt sogar noch schlechter ab als bei ihren Wahlen zur Generalsekretärin.

Auf dem Sonderparteitag in Wiesbaden erhielt Nahles von 624 gültigen Stimmen 414. Ihre Gegenkandidatin Simone Lange, bis vor wenigen Wochen in der Bundespartei noch völlig unbekannt, erzielte mit 172 Stimmen ein Achtungsergebnis. 38 Delegierte enthielten sich. Offenbar hat die Flensburger Oberbürgermeisterin die linken Ideologen hinter sich scharen können. Linke Pragmatiker haben dagegen eher zähneknirschend für Nahles gestimmt.

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Simone Lange handelte nach dem alten Sponti-Motto: „Du hast keine Chance, nutze sie.“ Immerhin wärmte sie mit ihren sozialpolitischen Vorstellungen das Herz der SPD-Linken. Ihre schlichte Analyse der guten wirtschaftlichen Lage und der hohen Beschäftigung fiel so aus: Die deutsche Stabilität basiere auf dem Rücken von Millionen Menschen, die Dank Hartz IV in Armut leben müssten. „Wir haben in Kauf genommen, dass diese Millionen in Armut leben“, klagte sie. Und: „Bei diesen Menschen möchte ich mich entschuldigen.“ Die Botschaft war klar: Mit mir als Parteivorsitzender wird Hartz IV abgeschafft. Auch bei der Finanzpolitik sprach Lange der Parteilinken aus dem Herzen: Die „schwarze Null“ ist für sie „Zahlensklaverei“. Ihre implizite Botschaft: Lasst uns Geld ausgeben, ob wir welches haben oder nicht. Das reichte für einen Achtungserfolg. Und zeigte zugleich, wie tief die SPD gespalten ist.

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Kein Wort wurde in Wiesbaden so oft ausgesprochen wie „Erneuerung“. Die neue Vorsitzende will die Partei erneuern, ihre Gegenkandidatin will es auch, nahezu jeder Redner sprach sich dafür aus. So besehen, haben die Delegierten richtig gewählt: Denn niemand in der SPD hat so viel Erfahrung mit der Erneuerung wie die neue Vorsitzende. Nahles hat die Partei schon nach den schweren Wahlniederlagen von 2009 und 2013 zu erneuern versprochen. Als Generalsekretärin erklärte Nahles die Erneuerung 2011 sogar „für abgeschlossen“. Die Erneuerungs-Partei SPD wird also von einer Erneuerungs-Spezialistin geführt. Da handelt die SPD nach dem alten CDU-Motto: Keine Experimente!

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Wenn Andrea Nahles eines nicht kann, dann ist es, ihre Gemütslage zu verbergen. Bei ihrer Vorstellungsrede platze sie fast vor Stolz, dass die große sozialdemokratische Partei erstmals in ihrer stolzen Geschichte eine Frau an die Spitze stelle, dass künftig der Vormarsch von Frauen nicht mehr an einer „gläsernen Decke“ scheitern werde. Der Fortschritt ist bekanntlich eine Schnecke und die Schnecke SPD ist 2018 da angekommen, wo die CDU schon 2000 war: Ihr erster Mann ist eine Frau.

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Andrea Nahles sagte in ihrer Rede vieles, aber nichts Neues. Gut, sie verzichtete auf ihre bekannten Kraftausdrücke wie „Kacke“, „in die Fresse“, „verdammt noch mal“; nicht einmal ein „Bätschi“ entfuhr ihr. Ansonsten beschwor sie die Solidarität als Leitmotiv für alle Politikfelder. Insgesamt redete sie, wie auch ihre Herausforderin so, als habe die SPD in diesem Land noch nie regiert – jedenfalls nicht im Bund. An allem, was in diesem Land schief läuft, sind ihrer Meinung nach irgendwelche bösen Mächte schuld. Ohnehin ist das Leben schwer in dieser „turbodigitalen Welt“. Wer würde da nicht zustimmen?

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Das Reizthema Hartz IV umschiffte Nahles geschickt. Sie verwies auf die Milliarden, mit denen die Große Koalition Langzeitarbeitslose in Lohn und Brot bringen will. Aber ein klares Bekenntnis zu der insgesamt erfolgreichen „Agenda“-Politik vermied sie. Schließlich wollte sie eben auch Stimmen vom linken Flügel und von den Gewerkschaftern.

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Dem gescheiterten Kanzlerkandidaten Martin Schulz sowie der gesamten Partei warf Nahles vor, im Wahlkampf das richtige Ziel genannt zu haben („mehr Gerechtigkeit“), aber nicht den Weg dahin. Um dann selbst genau dasselbe zu tun: Nahles listete viele Felder auf, auf denen die SPD neue Vorschläge machen müsste. Aber sie selbst macht keinen einzigen.

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Alle Umfragen zeigen, dass kaum ein anderes Thema die Menschen so sehr bewegt wie Zuwanderung und Integration. Bekanntlich hatte die SPD 2015/16 beim allgemeinen „Willkommensrausch“ begeistert mitgemacht. Das hatte – auch bei ihr – massive Stimmenverluste an die AfD zur Folge. Nahles hatte als Arbeitsministerin damals als eine der wenigen darauf hingewiesen, dass mit dem Zustrom an Flüchtlingen auch die Zahl der Arbeitslosen steigen werde. Aber jetzt mied sie jede konkrete Aussage zu dem Thema. Sie erwähnte kurz die schweren Übergriffe von Migranten in der Silvesternacht 2015 in Köln und sprach in diesem Zusammenhang von „Personen, die unsere Regeln nicht achten.“ Politisch korrekter geht’s nicht.

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Wahrscheinlich hätte Nahles noch schlechter abgeschnitten, wenn die Jungsozialisten – was eigentlich logisch gewesen wäre – für die GroKo-Gegnerin Lange gestimmt hätten. Doch deren Vorsitzender Kevin Kühnert hatte sich offen für Nahles ausgesprochen. Als Gegenleistung hat die neue Vorsitzende zugesagt, die Jusos dürften bei der „Erneuerungs-Arbeit“ die wichtige Arbeitsgruppe zur Reform des Sozialstaats leiten. Also wird mit Kühnert ein 28 Jahre alter Student – ohne abgeschlossene Ausbildung mit einem Teilzeit-Job bei einer Landespolitikerin – eine Schlüsselrolle bei der Konzipierung der neuen SPD-Sozialpolitik spielen. Das sieht nach vielem aus – aber nicht nach Erneuerung.

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Erneuerung hin, Nahles her: Zum Schluss des Parteitags sang man – wie immer – das biedere SPD-Lied „Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘…“. Wenn da „die alten Lieder“ gesungen werden „und die Wälder widerklingen“, dann hört sich das genau nicht nach der „neuen Zeit“ an, die angeblich mit der SPD zieht. Man fragt sich ohnehin, wer von überwiegend hauptberuflichen Mandatsträgern, Wahlbeamten und Parteifunktionären wie oft singend durch die Wälder zieht. Noch surrealer klingt die zweite Strophe aus dem Mund von halb- und vollakademisch ausgebildeten Berufspolitikern mit Schwerpunkt Sozialwissenschaften:

„Eine Woche Hammerschlag / eine Woche Häuserquadern / zittern noch in unsern Adern / aber keiner wagt zu hadern. /
Herrlich lacht der Sonnentag / herrlich lacht der Sonnentag.“

Man ahnt es: Von Erneuerung zu reden und sich tatsächlich zu erneuern, ist nicht dasselbe.