Tichys Einblick

Die Macht der Erwartungen

Es sind immer die Erwartungen die uns zu Handlungen veranlassen, nicht die Nachrichten selber. Wer sein Leben glücklich erleben will, muss unbedingt an seinen Erwartungen arbeiten. Und wer einen Markt antizipieren will, muss die Erwartungen der Marktteilnehmer verstehen.

Heute möchte ich ein Missverständnis thematisieren, das praktisch alle, die sich nicht tiefgehend mit Börse beschäftigen, gleichermaßen vereint. Und es ist ein Missverständnis, das sich auch im sonstigen Leben auswirkt und Situationen falsch einschätzen lässt, ja sogar zu Unglück und Missmut führen kann, wenn man sich dessen nicht bewusstwird.

Wer kennt das nicht?

Wer kennt nicht die Situation aus den alten Tagen vor dem Internet, als man noch „Tagesschau“ schaute und das noch eine Institution der Objektivität war. Da las der Nachrichtensprecher am Ende der 15 Minuten vor, dass ein Konzern wie die Deutsche Bank den größten Gewinn (oder wahlweise Verlust) seit x Jahren gemacht hatte. Man schaute am nächsten Morgen auf die Börse und der Gewinn wurde erstaunlicherweise mit 5% Kursverlust beantwortet oder wahlweise der Verlust mit 5% Kursgewinn – auf jeden Fall anders herum, als man gedacht hatte.

„Die spinnt die Börse, das sind doch alles nur Zocker“, ist dann die natürliche Reaktion derer, die den Zusammenhang nicht verstehen – dabei hat die Börse objektiv rational agiert, man muss nur verstehen, wie Kurse an einem freien Markt zustande kommen. „Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“ heißt es dazu im Plattdeutsch, die Ablehnung von allem was man nicht versteht, dient primär dem Schutz des eigenen Egos.

Warum investieren wir denn?

Vielleicht sollten wir uns zunächst klar machen, warum wir selber in etwas investieren. Stellen wir uns vor, da ist dieses superstabile, tolle Unternehmen, das wir sehr mögen und das seit Jahren steigende Gewinne ausweist. Warum investieren wir in dieses Unternehmen?

Ganz einfach, wir tun das nicht wegen der Gewinne der Vergangenheit, die sind ja vergangen und haben andere einkassiert. Wir tun das, weil wir aufgrund der Gewinne der Vergangenheit und der positiven Entwicklung *erwarten*, dass die Gewinne auch in Zukunft sprudeln und zu steigenden Dividenden führen. Wir investieren also aufgrund einer positiven *Erwartung*, die sich aus Daten der Vergangenheit und einem positiven Bild der Zukunft ableitet.

Und dann haben wir da noch das Unternehmen, das tief gefallen ist und neue Tiefststände im Kurs generiert. Gerade solche Unternehmen erzeugen bei unerfahrenen Anlegern einen starken Sog, darin nun zu „investieren“ – „Bottom Fishing“ nennt man das im Amerikanischen.

Der Grund für den Drang, dort sein Geld einzusetzen ist wieder die *Erwartung“. Die Erwartung also, dass das Unternehmen die Kurve bekommt, man „billig“ eingestiegen ist und dann in der Zukunft einen großen Gewinn machen kann. Und wer sich nicht vorstellen kann, dass so ein Unternehmen auch weiter fallen kann, erlebt dann oft eine böse Überraschung – seine Erwartung hat den Anleger auf die falsche Fährte gesetzt.

Es sind also immer die Erwartungen, die uns zu Handlungen veranlassen, nicht die Nachrichten selber.

Es ist nicht das gute Zahlenwerk, das uns zum Kauf animiert, es ist die Erwartung, dass es in Zukunft noch besser wird.

Es ist nicht die Ausschüttung der Vergangenheit, die uns zum Kauf animiert, es ist die Erwartung, dass diese auch in Zukunft fließen und sich noch steigern.
Und dieser Mechanismus ist doch nicht auf die Börse beschränkt, er wirkt überall im Wirtschaftsleben.

Warum kauft ein Händler eine Ware an? Weil er *erwartet* diese später teurer zu verkaufen.

Warum legt sich jemand Goldbarren in den Tresor? Weil er *erwartet*, darin sein Vermögen wertstabil konservieren zu können.

Und wir Menschen lassen uns damit natürlich auch manipulieren. Warum reagieren wir auf Rabatt-Schilder?

Weil wir *erwarten*, dass es in Zukunft wieder teurer wird und wir deshalb nun bei „Rabatt“ schnell zugreifen sollten.

Das Delta zwischen Realität und Erwartung

Die Erwartung an die Zukunft ist also der zentrale Faktor, der unser Handeln bestimmt. Nicht nur an der Börse, aber auch.

Und weil das so ist, kann ein Unternehmen einen großen Gewinn vermelden, der Kurs aber trotzdem fallen, weil die Marktteilnehmer einen noch größeren Gewinn *erwartet* haben und nun enttäuscht sind. Und ein Unternehmen kann einen großen Verlust vermelden, der Kurs aber trotzdem steigen, weil die Marktteilnehmer einen noch größeren Verlust *erwartet* haben und nun erleichtert sind.

Beides sind zutiefst rationale und zutreffende Reaktionen, denn eine Kursbewegung bildet nicht eine Nachricht ab, eine Kursbewegung bildet das Delta zwischen Realität und Erwartung ab. Und dieses Delta kann durch Nachrichten beeinflusst werden, die die Realität anders zeichnen, es kann aber auch durch Gerüchte und Vermutungen beeinflusst werden, die die Erwartung beeinflussen.

Genau deshalb ist Wirtschaft zu mindestens 50% Psychologie und Börse sowieso, weil Erwartungen der zentrale Faktor sind und diese ja auch durch weiche, subjektive Faktoren wie Gerüchte, Vorlieben, Stimmungen etc. beeinflusst werden.

Um es also ganz klar und eindeutig zu sagen:

Wer den Markt antizipieren will, muss die Erwartungen der Marktteilnehmer verstehen.

Es gibt keinen anderen Weg, denn nicht die Nachrichten bewegen die Kurse, sondern die Veränderungen der Erwartungen, die unter anderem – aber nicht nur – durch Nachrichten ausgelöst werden und höchst subjektiven Einflüssen unterliegen.
So sind wir Menschen nun einmal. Auch in den Goldrausch in Kalifornien sind die Menschen nur gezogen, weil sie vor ihrem geistigen Auge den großen Reichtum gesehen haben. Und viele Werbemethoden, gerade auch am Finanzmarkt, beruhen gerade darauf den Kunden eine Wurst vor die Nase zu halten und so ihre Erwartungen zu manipulieren, um diese zu einer Handlung zu bewegen. Und warum hat jemand mit Bitcoin spekuliert? Weil er *erwartet*, dass es morgen noch höher ist.

Um Börsenbewegungen zu verstehen, sind also die Daten der Markttechnik, zu denen auch Sentiment-Daten gehören, mindestens so wichtig, wie die objektiven Unternehmensdaten selber. Denn in der Markttechnik spricht der Markt zu uns, er offenbart seine Vorlieben und seine Erwartungen.

Glück und Erwartungsmanagement

Wie zentral das Thema aber ist, das weit über Börse hinaus geht, sieht man dann, wenn man sich klar macht, dass unser ganzes gefühltes Glück im Leben auch zentral mit Erwartungen zu tun hat.

Wir alle kennen die Geschichten von Urvölkern, die glücklich ohne die Segnungen der Zivilisation leben. Denn was man nicht weiß, macht einen nicht heiß, wie der Volksmund sagt. Und wenn man nichts vermisst – also keine weitergehenden Erwartungen hat – kann man durch das Fehlen der Dinge auch nicht enttäuscht oder frustriert werden. Sobald diese Urvölker aber mit uns in Kontakt kommen, sehen sie den Unterschied und verändern die Erwartungen und werden unglücklich.

Nehmen Sie einen Hochspringer, der objektiv 2,20m hochspringt. Der erste Springer ist Weltmeister, springt 2,20 und ist zutiefst frustriert über seinen katastrophal schlechten Tag. Der zweite Springer ist Amateur, bisher nicht ernsthaft über 2 Meter gekommen, springt auch 2,20m und ist beseelt und begeistert, von der tollen Leistung. Die Erwartung macht den Unterschied, nicht der objektive Vorgang.

Oder nehmen Sie den (wahren) Spruch, dass Reichtum nicht dauerhaft glücklich macht. In dem Moment, in dem man von einem Lottogewinn ereilt wird, ist man euphorisch und glücklich – das hatte man nicht *erwartet*. Schon bald aber wird aus dem Reichtum der Normalfall, es gibt kein positives Erwartungsdelta mehr und schon beginnen die Verlustsorgen zu drücken und zu belasten.

Und auch aus dem Urlaub kennen wir das doch alle. Wenn man lange hart gearbeitet hat und alles Glück auf den kommenden Urlaub projiziert, dann wird dieser eher eine Enttäuschung werden. Nicht weil er objektiv schlecht ist, sondern weil die Erwartungen zu hoch sind.

Erwartungen, das zweischneidige Schwert

Wer also sein Leben glücklich erleben will, muss unbedingt an seinen Erwartungen arbeiten. Auch für die Partnerschaft gilt das, wer erst dann zufrieden ist, wenn er einen Partner gefunden hat, der in allem der eigenen, idealen Traumvorstellung entspricht, wird kaum eine glückliche Partnerschaft erleben.

Umgedreht wäre es aber falsch, das Fehlen jeglicher Erwartungen als Königsweg zu beschreiben. Denn dann könnten wir auch gleich wieder in die Höhlen der Steinzeit zurückkehren, nichts erwarten und uns einfach der Willkür einer Natur hingeben, die keineswegs so freundlich und schützenswert ist, wie sie neuerdings in grün-romantischer Aufwallung gerne gemacht wird.

Mit Erwartungen kommt nämlich auch der Wille zur Veränderung, der Wille seinen Zustand zu verändern und nach einer besseren Zukunft zu streben. Erwartungen holen also das Beste aus uns heraus und treiben uns an. Nur sollten wir uns ihnen nicht ausliefern und darauf achten, dass wir auch das schätzen, was wir haben und nicht nur das, was wir hinter dem nächsten Baum erwarten können.

Zurück zur Börse und zum „Random Walk“

Aber zurück zur Börse. Ich hoffe ich konnte klar machen, dass Börsenkurse durch Erwartungen bewegt werden und nicht durch die Nachrichten selber. Natürlich haben Nachrichten Auswirkungen auf Kurse, aber nicht direkt, sondern nur „um die Ecke herum“, indem Nachrichten eben wieder die Erwartungen verändern. Wenn ein Unternehmen als stabil bekannt ist und plötzlich einen Verlust ausweist, verändert das die Erwartungen. Wenn es aber einen guten Grund gibt, diesen Verlust als einmalige Anomalie zu betrachten, wird es kaum eine Kursreaktion geben und das ist genau richtig so. Es sind die Erwartungen an die Zukunft, die die Kurse bewegen.

An dieser Stelle liegt auch das große Missverständnis der „Random Walk“ Logik und aller die behaupten, dass sich Kursbewegungen nicht antizipieren ließen und dass ja alles nur Rauschen sei.

Natürlich weiß niemand, ob morgen hier ein Skandal publik wird, dort ein Erdbeben Firmen gefährdet und da drüben ein Krieg Rohstoffpreise treibt. Diese Zukunft ist prinzipiell offen und unbestimmt und niemand hat eine Glaskugel diese vorher zu sehen.

Was wir aber wissen und sehen können, sind die Erwartungen, die in ein Asset wie eine Aktie schon hereingeflossen sind. Wenn also eine Aktie eine schlechte Nachricht nach der anderen verarbeitet hat und jeder nur das Allerschlimmste erwartet, dann reicht schon ein klitzekleiner Hauch von „nicht ganz so schlimm“ um die Erwartungen und damit die Kurse massiv nach oben zu schicken.

Wir kennen also nicht die Zukunft, wir können aber sehen, wie stark das Gummiband der Erwartungen schon in die eine oder andere Richtung gedehnt ist. Und darauf basierend, können wir statistisch profitable Entscheidungen treffen – uns also sozusagen auf die richtige Seite der Geschichte stellen.

Ein Markt – Die Summe der Erwartungen aller Marktteilnehmer

Das ist der Kern dessen, was uns die Markttechnik ermöglicht. Um diesen Schatz für uns zu heben, müssen wir aber im ersten Schritt akzeptieren, dass ein Markt die Summe der Erwartungen aller Marktteilnehmer ist und wir diese Summe der Erwartungen aus den Marktdaten und damit auch Charts ableiten können. Charts sagen uns also nichts über die Zukunft, bilden aber den Zustand des Marktes in Gegenwart und Vergangenheit ab und das ist eine ganze Menge mehr, als nur herum zu raten.

Die Antizipation von Marktgeschehen basiert also nicht darauf, dass wir die Zukunft vorhersehen können – das kann niemand. Sie basiert darauf, dass wir erkennen, was die Mehrheit im Markt erwartet, aufgrund welcher Modelle sie ihre Anlageentscheidungen trifft. Wer das erkennt, kann mit der Herde mitlaufen und mit den Wölfen heulen, im richtigen Moment sich aber auch von der Herde trennen und in die Büsche schlagen. Einfach ist das nicht, möglich aber schon.

Aber auch wer gar nicht den Anspruch hat die Herde (den Markt) zu schlagen, kann massiv vom Verständnis profitieren, dass wirtschaftliche Entscheidungen – und damit auch Kurse – durch Erwartungen gemacht werden. Man setze heute ein glaubwürdiges Gerücht in die Welt und schon sind die Kurse andere. Wirtschaft und Börse ist eben zu mindestens 50% Psychologie, bei der Börse eher mehr. Vergessen wir das nie!

Ihr Michael Schulte (Hari)