Tichys Einblick
ENERGIEPOLITIK

Zehn Jahre nach dem Atomausstieg: Deutschland vor dem großen Blackout

Die Debattenbeiträge der Bundestagssitzung vom 9. Juni 2011 zur Änderung des Atomgesetzes besitzen schon heute eine archäologisch zu nennende Anmutung. „Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen“, sagte die Kanzlerin seinerzeit. Sie rief, und (fast) alle folgten.

imago/Frank Sorge
Die Änderung des Atomgesetzes samt sechs Begleitgesetzen ging 2011 geschmeidig durch den Bundestag. Ein jahrzehntelanges Feuerwerk, abgebrannt von links-grünen Politikern, hatte ein erfolgreiches Ende gefunden. Beschleunigt worden war der deutsche Atomausstieg durch einen Tsunami vor Fukushima im fernen Japan, der nicht nur einen ganzen Landstrich verheerte, sondern auch das gleichnamige Kernkraftwerk zerstörte.

Eine eigens gegründete „Ethikkommission sichere Energieversorgung“ lieferte die gewünschte ethische Begründung. Wissenschaftlichen Standards wurde nicht entsprochen, bemängelten Kritiker. Nicht einmal eine bei jedem stinknormalen Projekt übliche SWOT-Analyse (die Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken vergleicht) sei vorgenommen worden. Letztlich habe die Kommission wohl nur die Staffage liefern sollen. Die Debatte im Bundestag am 9. Juni 2011 brachte dann auch kaum noch Widerspruch zum Purzelbaum der Kanzlerin, die erst im Oktober 2010 eine Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke (KKW) durchgesetzt hatte. Nun überholte sie noch den Atomausstieg-Vertrag von Rot-Grün aus dem Jahr 2002.

Dass das Seebeben vor Japan und dessen Folgen wirklich die Grundhaltung der Kanzlerin geändert hätten, ist kaum zu vermuten. Es war aber der perfekte Anlass, die Weichen für die künftige Zusammenarbeit mit den Grünen zu stellen, die nach der Laufzeitverlängerung zur Fundamentalopposition geworden waren. Weitblickend erkannte Merkel, dass weder eine stagnierende FDP noch eine schwindsüchtige SPD zukunftsfähige Partner sein würden. Mit einem (neuerlichen) Ausstiegsbeschluss aus der Kernenergie konnten sich die Grünen aber kaum einer Zusammenarbeit entziehen, und so wurden sie von einer Oppositions- zu einer Begleitpartei der damals schwarz-gelben und später der Großen Koalition.

Versetzen wir uns ins Jahr 2011 zurück. Die deutsche Solarindustrie war auf ihrem Gipfel, das Wachstum schien dauerhaft und endlos. Über das Wüstenstromprojekt Desertec wurde viel und positiv berichtet, sodass es sogar in den Abschlussbericht der Ethikkommission Eingang fand – als Begründung für den Erhalt der Versorgungssicherheit nach dem Atomausstieg. Selbst die nur sehr sparsam vorhandene Geothermie musste dafür herhalten.

Der kalte Winter 2010/11 hatte die Klimaangst gedämpft, der Flugverkehr litt unter einem Mangel an Enteisungsmitteln, und die Straßenmeistereien klagten über fehlendes Streusalz. Die Aussicht, Strom aus Kernkraft durch Strom aus Kohle ersetzen zu müssen, löste damals auch nicht die heutigen apokalyptischen Ängste aus. Fridays for Future gab es noch nicht.

Versorgungssicherheit

Die Kanzlerin selbst schielte damals nicht nur auf die Umfragen, sondern sorgte sich auch noch um die Wirtschaft: „Damit die Versorgungssicherheit … zu jeder Minute und jeder Sekunde gewährleistet ist, müssen wir ausreichend fossile Reservekapazitäten unseres Kraftwerksparks vorhalten“, dozierte sie vor gut zehn Jahren im Bundestag. Hocheffiziente Kohle- und Gaskraftwerke sollten fortentwickelt werden, sagte sie weiter, zehn bis 20 Gigawatt müssten zugebaut werden.

Das klingt heute wie aus der Zeit gefallen. Zugebaut wurden bisher etwa 7,6 Gigawatt an Gaskraftwerksleistung, mit dem gesamten Kernkraftwerkspark entfallen allerdings etwa 20,5 Gigawatt. Das hocheffiziente Kohlekraftwerk Hamburg Moorburg, erst 2015 in Betrieb genommen, wurde schon 2020 von der eskalierten Klimaangstpolitik erstickt, die mit dem Kohleausstiegsbeschluss im Jahr 2020 ihren einstweiligen Höhepunkt fand. Dadurch entfallen bis Ende 2022, dem Zeitpunkt der Abschaltung des letzten KKW, zusätzlich mindestens acht Gigawatt Kohlekraftwerksleistung.

Zurück ins Jahr 2011. Mit deutlicher Mehrheit wurde dann am 30. Juni der Änderung des Atomgesetzes, mithin des Ausstiegs bis 2022, zugestimmt. Mit 513 Ja-Stimmen, 79 Gegenstimmen und acht Enthaltungen sehr deutlich. Dass allen Abgeordneten die Konsequenzen wirklich bewusst waren, darf angezweifelt werden.

Die Umsetzung des Atomgesetzpakets gestaltete sich dann allerdings durchaus problematisch. Sowohl die Anweisung zur Sofortabschaltung der sieben
ältesten KKW als auch die bereits bestehende Brennelementesteuer und die unterlassene Korrektur bei den Reststrommengen bedurften teurer Reparaturen. Um dem Schadenersatz für die als rechtswidrig erkannten Sofortabschaltungen zu entgehen, übernahm der Bund alle Endlagerkosten, die Einnahmen aus der Brennelementesteuer wurden verzinst zurückgezahlt, und auch das Problem der nicht mehr produzierbaren Reststrommengen schüttete man mit Milliarden Euro zu.
Unterdessen schwante einigen Managern und auch Politkern, dass die Decke dünn und der Strom knapp werden könnte. Joachim Pfeiffer, ehemaliger energiepolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, „erwärmte“ sich 2019 wieder für die Kernkraft, „wenn von Linken und Grünen die Initiative dazu ausgehen würde“. Das war ein parteitaktischer Offenbarungseid, denn eher fällt der Mond vom Himmel, als dass sich die Grünen von ihrer Anti-Atom-DNA verabschieden. Die Linken wiederum würden eine frühere Fehleinschätzung niemals zugeben. Vielleicht war es auch nur ein Luftballon Pfeiffers, um seine Rolle im Desaster später relativieren zu können.

Folgen zuerst in Bayern spürbar

Die Folgen der Abschaltungen werden sich zuerst in Bayern auswirken. Eine erhebliche Abhängigkeit von Stromlieferungen von außen ist unvermeidbar. Damit in Verbindung stehende Fragen sollten an diejenigen CSU-Abgeordneten gerichtet werden, die 2011 die Hand für die Abschaltung auch der bayrischen KKW hoben, sie sollten darauf antworten können. Man ist gespannt, was Ilse Aigner, Dorothee Bär, Alexander Dobrindt, Gerda Hasselfeldt und andere dazu zu sagen hätten.

Der Strom für Bayern wird auch über Ländergrenzen kommen, aus Frankreich, der Schweiz und aus Tschechien. Der böse Atomstrom wird den sauberen Bajuwaren also erhalten bleiben. Das ist die eine – kuriose – Seite der deutschen Energiewende. Der deutsche Ausstieg erzwingt indes in anderen europäischen Ländern auch Änderungen der Energiepolitik, die gar nicht lustig sind. Konnte man bisher zuverlässig und preiswert aus Deutschland importieren, muss man jetzt die eigenen Kapazitäten stärken. Das trägt dazu bei, dass Polen in die Kernenergie einsteigt und die Niederlande, Tschechien, die Slowakei, Großbritannien und Finnland ihre Kapazitäten ausbauen. Ungarn, Rumänien und Bulgarien modernisieren.

Weltweit mehr Atomkraftwerke

In bewährter deutscher Nabelschau fegen wir jedoch weiter nur im eigenen Vorgarten. Oder es wird das ganz große Rad gedreht. Die Grünen forderten 2020, zur Hochzeit der Corona-Pandemie, von der Bundesregierung nicht weniger als den globalen Atomausstieg. Heute gilt der Kernenergieausstieg als erledigt. „Die Sache ist durch“, heißt es, und die Trophäe glänzt im Foyer der bündnisgrünen Fraktion.
Praktisch ist er aber noch nicht durch. Die KKW erzeugten 2020 noch 65 Terawattstunden Strom, etwa halb so viel wie alle deutschen Windkraftanlagen zusammen. Das heißt im Umkehrschluss, dass etwa 15 000 zusätzliche Windkraftanlagen nötig wären, um in der Jahressumme den Kernenergiestrom zu ersetzen. Damit wäre emissionsarm produzierter Strom durch anderen emissionsarmen ersetzt, aber keine einzige Kilowattstunde Kohlestrom substituiert, keine zusätzliche Wärmepumpe oder Ladestation betrieben. An bedarfsgerechte oder versorgungssichernde Stromproduktion wäre dabei auch noch nicht gedacht.

2011 wird in Erinnerung bleiben als Jahr, in dem der Grundstein für ein infrastrukturelles Wolkenkuckucksheim gelegt wurde. Zehn Jahre, in denen Korrekturen hätten vorgenommen werden können, wurden nicht genutzt. Stattdessen wendet man sich von fossilen Reservekapazitäten ab, und dem angeblich bald verfügbaren grünen Wasserstoff zu. Diese Vision ist allerdings so flüchtig wie der Wasserstoff selbst.