Tichys Einblick
Durch Worte verdunkeln

Das ABC von Energiewende- und Grünsprech 86: Reallabor

Wenn man Visionen hat anstelle von Plänen, bedarf es einiger Großversuche zum Erkenntnisgewinn. Wir wissen noch nicht, wie die Energiewende funktionieren kann, gehen aber zügig voran – beim Abschalten.

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Täglich werden wir mit Begriffen konfrontiert, die im Ergebnis einer als alternativlos gepriesenen Energiewende verwendet werden oder durch sie erst entstanden sind. Wir greifen auch Bezeichnungen auf, die in der allgemeinen Vergrünung in den Alltagsgebrauch überzugehen drohen – in nichtalphabetischer Reihenfolge.

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Reallabor, das

Eine Besonderheit der deutschnationalen Energiewende besteht darin, dass neue Begriffe generiert werden, insbesondere zusammengesetzte Substantive. Ursache können geänderte Bedingungen sein, wie bei der „Dunkelflaute“. Die gab es schon immer, früher war es aber völlig belanglos, wenn Dunkelheit und Windstille gemeinsam auftraten. Niemand interessierte sich dafür, warum auch? Im heutigen Energiesystem mit extrem hoher Volatilität der Wind- und Sonnenstromeinspeisung, verbunden mit stetig abnehmender gesicherter Einspeisung, bekommt die Dunkelflaute den Charakter von Extremwetter. Nullstrom aus Luft und Sonne erzwingt den vollen Ersatz des Backup-Systems. Bisher war auch das kein Problem, stand doch immer genug gesicherte Leistung zur Verfügung, herrührend aus Zeiten fester Versorgungsgebiete vor 1998. Mit dem Atom- und Kohleausstieg ändert sich das.

Standen laut BDEW 2017 noch mehr als 90 Gigawatt konventionelle Kraftwerksleistung für die gesicherte Einspeisung zur Verfügung, werden es 2023 nur noch 67 Gigawatt sein. Der maximale Bedarf von 80 Gigawatt dürfte in den nächsten Jahren eher noch steigen. Wir gehen sehenden Auges in eine Unterdeckung der Systembilanz, wobei die Zahlen des BDEW noch nicht die Empfehlungen der so genannten „Kohlekommission“ enthalten. Nach deren Vorstellungen kämen noch 12,5 Gigawatt an abzuschaltender Kraftwerksleistung dazu. Und wer liefert den Ersatz?

„Eine zukünftig wichtige Option zur Bereitstellung von Stromerzeugungsleistung wird zum Beispiel der Bau neuer Gaskraftwerke sein“,

schreibt die „Kohlekommission“ in ihrem Bericht. Eine beispielhafte Option als Gegenstück zu konkreten Abschaltterminen beruhigt vielleicht grünes Fußvolk, Wirtschaft und Verbraucher eher nicht. Die Preise steigen jedenfalls schon mal infolge verteuerter Emissionszertifikate, mit denen sich Firmen bevorraten und Banken spekulieren. Bisher fanden Knappheitssignale noch keinen deutlichen Eingang in den Strompreis. Die Abschaltung von Kernkraftwerken und Altanlagen sowie die erzwungene „Sicherheitsbereitschaft“ von Braunkohlekraftwerken werden künftig dafür sorgen. Die Bundesnetzagentur errechnete für den Winter 22/23 eine nötige Kraftwerksreserve von etwa 10,5 Gigawatt, die aus überwiegend alten, zur Stilllegung angemeldeten Anlagen bereitgestellt werden soll, etwa Gaskraftwerken aus den Siebzigern. Zur Erinnerung: Die noch laufenden Kernkraftwerke leisten emissionsarme 9,5 Gigawatt.

Dieses energiepolitische Vorgehen beschrieb der Generalsekretärs des Weltenergierates, Christoph Frei, schon 2015 so*: „Deutschland ist das größte Freiluftlaboratorium auf dem Energiesektor.“

Dies drückt sich heute im Neusprech als „Reallabor“ aus. Der Begriff „Labor“ beschreibt einen Raum, in dem Untersuchungen, Messungen und Experimente durchgeführt werden. Dies geschieht weder virtuell noch imaginär, sondern konkret und real, weshalb eigentlich jedes Labor ein „Reallabor“ ist.

Der inzwischen häufig verwendete Sprachpanscherei des „Reallabors“, eingeführt vom Bundeswirtschaftsministerium, beschreibt konkret ein Förderprogramm mit dem blumigen Titel „Schaufenster intelligente Energie – digitale Agenda für die Energiewende (SINTEG)“. Hier soll die Energiewelt von morgen entwickelt werden durch „digitale Flexibilitätsmärkte“, Energiespeicher, Sektorkopplung, Verbraucher- steuerung und mehr. Ziel des Projekts SINTEG ist es, in regional begrenzten Zonen praktisch auszutesten, wie künftig eine Versorgung im ganzen Land aussehen soll. Zunächst macht das Instrument der „Reallabore“ deutlich, dass es keine festen Vorstellungen zum künftigen System gibt, erst recht keinen Masterplan. Dafür jede Menge an Annahmen, Projektionen, Szenarien, Optionen und CO2-gesteuerte Wunschvorstellungen.

Aktuell startet ein SINTEG-Projekt am BASF-Standort in Schwarzheide. Es vereint ein ganzes Bündel an Maßnahmen, angefangen von der Nutzung der regionalen „Erneuerbaren“ (was durch örtliche Nähe und den Einspeisevorrang ohnehin der Fall ist), Stromspeicherung und ein virtuelles Kraftwerk inklusive Verbrauchssteuerung. Auch real wird ein Kraftwerk umgebaut. Das werkseigene KWK-Gaskraftwerk aus dem Jahr 1994 war zwischenzeitlich wirtschaftlich beeinträchtigt, weil extrem niedrige Strompreise am Markt den Turbinenbetrieb unökonomisch machten. Bei nun steigenden Strompreisen und absehbar verringerter Versorgungssicherheit im öffentlichen Netz kalkuliert die BASF neu und sichert sich ab. Ein Batteriesystem soll die Schwarzstartfähigkeit des eigenen Kraftwerks sichern, so dass auch ein Blackout im angrenzenden Netz dem Industriestandort weniger anhaben kann.

Generell ist der Trend vieler Unternehmen zur Selbstversorgung nicht neu. Kostenseitig lassen sich Netzgebühren, EEG-Umlage und andere Kostenpositionen sparen, zudem ermöglicht ein Inselnetz, die Risiken des öffentlichen Netzes zu umgehen.

73 Millionen Euro lässt sich die BASF die neue KWK-Anlage kosten. Ob sich die Investition bis 2030 amortisiert, wenn dann die Regierung unter grünes Kanzler*_In die Erdgasnutzung ordnungspolitisch untersagt, lässt sich nicht vorhersehen. Windgas soll dann eingesetzt werden, wobei die Bundesnetzagentur dieser Variante eine Wirtschaftlichkeit bis dahin nicht zuschreiben kann.

Über viele SINTEG-Projekte wird das ganze Land zum Reallabor. Künftig führt kein Weg an der Verbrauchersteuerung vorbei. Dafür wird es wieder einen neuen Begriff geben, vielleicht „Verbrauchersystembeteiligung“ oder „abnahmeseitige netzdienliche Maßnahme“. Bezeichnungen wie „Abschaltung“ oder „Rationierung“ werden nicht zur Verwendung kommen. Eine CO2-Steuer wird man auch anders bezeichnen, etwa als „Klimabeitrag“ oder „Zukunftseuro“. Goldene Zeiten für Euphemisten.

Wie das Klimasystem sind auch Energiesysteme komplexe nichtlineare Strukturen. Die Folgen von Eingriffen sind schwer zu prophezeien und es gibt Kipppunkte im System. Ein stabiles Stromnetz ist das Ergebnis akkurater Arbeit einiger tausend Menschen rund um die Uhr. Das Unterschreiten bestimmter Systemgrenzen wie dem Minimum an gesicherter Leistung kann kurzfristig drastische Folgen haben. Schon Seneca hatte formuliert: „Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft.“

Experimenten ist eigen, dass sie gelingen, aber auch scheitern können. Historisch betrachtet zogen sich Experimente in Reallaboren ziemlich lange hin. Die DDR brauchte 40 Jahre bis zum Scheitern, die Sowjetunion sogar 74. Nach dem Versuch kam der Real-Kollaps, der für die Beteiligten schmerzhaft war.

Umso erstaunlicher die Geschichtsvergessenheit im politischen Raum. Kursierte vor wenigen Jahren noch die Formulierung, Kevin sei kein Name, sondern eine Diagnose, vermag es ein ebensolcher heutzutage, ein neues gesellschaftliches Großexperiment ernsthaft diskutieren zu lassen. Nach Einstein ist die Definition von Wahnsinn, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Der beabsichtigte exzessive Ausbau volatiler Einspeisung mittels Wind und Sonne zeigt indes, dass unsere Regierung ebenso wahnwitzig handelt. Hat der massenhafte Ausbau der Windkraft nicht zur Reduzierung der CO2-Emissionen geführt, müssen wir nach der Logik dieser Laienspielgruppe umso mehr dazu bauen.

Unterdessen schreitet die Verstaatlichung des Energiesystems über den Zwischenschritt der Bürokratisierung voran. Der sicherste Weg zu einer deutlichen CO2-Einsparung und zur Erfüllung der „Klimaziele“ 2030 ist eine solide Deindustrialisierung. Dieser Kurs ist eingeschlagen. Wer hätte gedacht, dass die Deutschen im landesweiten Reallabor eine Art Morgenthau-Plan selbst umsetzen werden?

*) in einem Interview des rbb-Inforadio am 31.1.2015