Tichys Einblick
Politik ohne Grundgesetz

Die drei Erfindungen der Parteien: Kanzlerkandidat, Regierungsauftrag, Koalitionsvertrag

Vor, während und nach Wahlen wird das Politikgeschehen von Institutionen bestimmt, die im Grundgesetz nicht vorkommen. "Kanzlerkandidat", "Regierungsauftrag" und "Koalitionsvertrag" sind Erfindungen der Parteiführungen und Medien, die sich eine Interpretationsmacht anmaßen, die ihnen nicht zusteht.

Fotomontage: Armin Laschet (CDU),Annalena Baerbock, (Bündnis 90/die Grünen),Olaf Scholz (SPD)

IMAGO / Sven Simon

Alle vier Jahre wieder beschäftigt sich das Konglomerat aus Parteipolitikern und Politikjournalisten, das mal jemand ganz treffend als „Raumschiff Berlin“ bezeichnete, monatelang mit drei Einrichtungen, die es eigentlich nicht gibt, genauer gesagt: die im Grundgesetz oder anderen rechtlichen Grundlagen unseres Staates nicht erwähnt sind, also staatsrechtlich eigentlich keine Bedeutung haben. Die Parteien haben sie erfunden, die Medien nehmen sie dankbar auf (denn für sie wurden sie erfunden), und das (Wahl-)Volk akzeptiert sie als Quasi-Institutionen der deutschen Politikwirklichkeit. 

Es beginnt mit der parteiinternen Kür eines so genannten Kanzlerkandidaten. Auf die Idee, den Wählern einen solchen zu präsentieren, kam in Deutschland erstmals die SPD vor der Wahl von 1961, um Willy Brandt gegen Amtsinhaber Konrad Adenauer in Szene zu setzen. In den Jahren und Jahrzehnten zuvor war unausgesprochen mehr oder weniger klar, dass eine regierende Partei ihren Vorsitzenden zum Kanzler zu machen vesuchte. Klaus Schütz hatte, wie Egon Bahr berichtete, das mobilisierende Potenzial eines ganz auf einen Kopf zugeschnittenen Wahlkampfs in den USA erkannt. Mit dem schließlich auch von dort übernommenen Fernsehduell wurde dann in den Köpfen der deutschen Wähler endgültig die Vorstellung verankert, dass sie einen Kanzler wählen könnten. 

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Verwunderlich ist, dass die kleineren Parteien sich das lange Zeit klaglos gefallen ließen. Die FDP kam erst 2002 auf die Idee, mit ihrem Vorsitzenden Guido Westerwelle selbst einen Kanzlerkandidaten herauszustellen, zusammen mit dem Ziel, 18 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Das war vollkommen legitim, denn – wie gesagt – es gibt eigentlich sowieso keinen Kanzlerkandidaten, also auch keine Kriterien dafür, einen zu behaupten. Die eigentlichen Herren über die öffentliche Wahrheit, nämlich die Medien (vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender) haben Westerwelles Kanzlerkandidatur aber von Anfang an ins Lächerliche gezogen. Er erhielt keinen Platz im damaligen ersten Fernsehduell. Und so verpuffte der Effekt. Die FDP kam nicht auf 18, sondern nur auf magere 7,4 Prozent, noch hinter den Grünen.

Die Grünen haben sich in diesem Jahr bekanntlich an diese Idee erinnert. Der große Unterschied: Die von der „Kanzlerkandidatin“ Annalena Baerbock begeisterten öffentlich-rechtlichen (und auch die privaten) Fernsehduell-Macher haben die Grüne ohne hörbaren Widerspruch von irgendjemandem zwischen Scholz und Laschet in ihrem „Triell“ platziert. Außer einem zwischenzeitlichen Höhenflug in den Umfragen (die bekanntlich auch in Grund- und Wahlgesetz nicht erwähnt sind) gab es dafür keine Grundlage. Die Grünen waren im Bundestag nicht einmal größte Oppositionspartei. 

Dass den Grünen die entsprechende Medienpräsenz großen Wahlkampfnutzen verschaffte, ist wohl kaum zu bezweifeln. Ihre Agenda – Klimaschutz, Klimaschutz, Klimaschutz – bestimmt ohnehin die gesamte Sachpolitik vor und nach der Wahl. 

Warum waren die anderen kleinen Parteien so dumm, nicht auch Kanzlerkandidaten zu behaupten? Bei der FDP mag die Westerwelle-Erfahrung eine Rolle gespielt haben, bei der AfD die innere Zerrissenheit. Sie haben jedenfalls eine große Chance verpasst. In vier Jahren dürften sie das ändern. Die Sender wären dann in großer Verlegenheit, das Triell zu einem Quintell zu machen.

Die nächste Erfindung ist dann unmittelbar nach der Wahl der „Regierungsauftrag“. Auch den haben irgendwann findige PR-Spezialisten aus dem Ausland kurzerhand importiert. Er ist in einigen Monarchien ein Relikt aus alten Zeiten: Der Monarch gab in vordemokratischer Zeit einem Mann seiner Wahl den Auftrag als Ministerpräsident ein Kabinett einzurichten. Im Laufe der Parlamentarisierung wurde das dann zu einem formalen Akt, in dem der Monarch stets den Anführer der größten Partei beauftragte. In der monarchenlosen Bundesrepublik gibt es diese Einrichtung nicht. 

Eine ähnliche Qualität wie der „Regierungsauftrag“ hat auch die schnell Behauptung, eine Partei sei „abgewählt“. Die Grünen-nahe Kampagne Campact hat diese Botschaft in großen Zeitungsanzeigen verbreitet:

Screenprint / Campact

Da der Kanzler in Deutschland nicht direkt gewählt wird, kann er auch nicht vom Wähler abgewählt werden. Die deutschen Wähler beauftragen niemanden mit der Regierungsbildung, sondern wählen Repräsentanten, die nach Mehrheiten suchen, schließlich einen Kanzler wählen, der dann Minister beruft und mit ihnen die Bundesregierung bildet. In das Wahlergebnis einen Willen des Wahlvolkes herein zu interpretieren, der über die Zusammensetzung des Parlamentes hinausgeht, ist eine Anmaßung. Und zwar eine, die in der unseligen Tradition der „volonté generale“ des Jean-Jacques Rousseau und seiner jakobinischen und marxistischen Bewunderer steht und in letzter Konsequenz von der pluralen, freiheitlichen Demokratie zur sogenannten Volksdemokratie führt, in der Kader-Politiker bestimmen, was gut für das Volk (heute meist: „die Menschen“) ist.

Natürlich liegt es nahe, dass die größte Fraktion auch den Kanzler stellt. Aber schon in der alten Bundesrepublik war das nicht immer der Fall: Die FDP koalierte 1976 lieber mit der SPD als mit der Union, obwohl die deutlich mehr Stimmen (heute unvorstellbare 48,6 Prozent) und Abgeordnetensitze verbuchte. Auch 1980 erhielten CDU und CSU deutlich mehr Stimmen als die SPD. Doch die FDP blieb – bis 1982 – in der Koalition mit der SPD.

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Die dritte Erfindung, mit der die Deutschen demnächst wohl über Wochen wenn nicht Monate beschäftigt sein werden, ist der „Koalitionsvertrag“. Der steht nicht nur nicht im Grundgesetz, sondern ist auch nicht, was er zu sein behauptet, nämlich ein „Vertrag“. Vor keinem Gericht kann sich irgendjemand auf das hier Vereinbarte berufen. Das wäre auch unvereinbar mit der Freiheit des Mandats der Bundestagsabgeordneten, die vom Grundgesetz garantiert wird. Es handelt sich um nichts als eine schriftlich festgehaltene Absichtserklärung von Koalitionsparteien. Aber genau dieser Effekt auf die Koalitionsabgeordneten – ihr habt euch an diesen „Vertrag“ zu halten, also sprecht und handelt ihm nicht zuwider, sonst seid ihr Rechtsbrecher – ist wohl das zentrale Motiv der Spitzenpolitiker, die ihn miteinander aushandeln.

Wie die beiden anderen Erfindungen ist auch der „Koalitionsvertrag“ ein relativ junges Phänomen und ein Indiz für den im Grundgesetz nicht vorgesehenen Machtzuwachs der Parteispitzen gegenüber den demokratischen, repräsentativen Einrichtungen. 

Vor 1961 waren Koalitionsverträge unüblich. Informelle und unveröffentlichte Abmachungen in Form von Briefwechseln genügten den Parteiführern. Was die Regierungen vorhatten, verkündete der Reichs- oder Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Reichs- bzw. Bundestag. 

1957 schlossen CDU/CSU und Deutsche Partei „Koalitionsvereinbarungen“, die nicht veröffentlicht wurden. Der erste schriftliche Koalitionsvertrag, der zwar nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber dann doch in der Presse landete, war der von 1961 zwischen Union und FDP. Er hatte ganze acht Seiten.

Dieser Umfang blieb über 20 Jahre einigermaßen konstant. Als 1982 Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher ihre erste Regierungskoalition bildeten, reichten ihnen dazu noch 12 Seiten mit der prosaischen Überschrift: „Ergebnis der Koalitionsgespräche“. Es war eine Auflistung im knappen Nominalstil. Der letzte Koalitionsvertrag von 2017 hat 177 Seiten. Man wird bald wissen, ob der nächste wesentlich kürzer sein wird.