Tichys Einblick
Großbritannien: Wirtschaft

Die Brexit-Katastrophe will einfach nicht eintreten – im Gegenteil

Kaum ein Ökonom oder Journalist, der nicht katastrophale ökonomische Auswirkungen des Brexit prophezeite. Nun ist er Wirklichkeit und die britische Wirtschaft gedeiht dennoch. Peinlich für die Autoren - und für Brüssel. Johnson sitzt nun am längeren Hebel.

DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP via Getty Images

Schon vor dem Referendum und erst recht, nachdem sich die Briten mehrheitlich dafür entschieden hatten die Europäische Union zu verlassen, war für die große Mehrheit der hauptberuflichen Kommentatoren auf beiden Seiten des Ärmelkanals klar, was das bedeute. Es sei ein Sieg der unbelehrbaren, rückwärtsgewandten Unvernunft. 

Der Brexit gilt den meisten Politikern und Berufsmeinungsmachern ähnlich wie die Wahl von Donald Trump in den USA als eine Art Betriebsunfall der Geschichte. „Eine zerstörerische, populistische, nationalistische Ideologie“ lasse Großbritannien „in die Vergessenheit schlafwandeln“, schrieb zum Beispiel der ehemalige Premierminister Gordon Brown im August 2019 im Observer.  

Bis zum Wahlsieg Boris Johnsons hatten viele Beobachter und Akteure in London ebenso wie in Festlandseuropa aber auch die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass der Brexit vielleicht doch noch zu verhindern sei. Eine wichtige Rolle spielten dabei die ökonomischen Prophezeiungen. Die Mehrheit der Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten überbot sich in Schwarzmalerei darüber, was der Brexit für die britische Wirtschaft bedeuten werde. Das was sonst tunlichst kein guter Ratgeber sein darf, etwa wenn es um Einwanderung geht, nämlich Angst, wurde nun geradezu vorbildlich geschürt. Die Briten, so waren sich Autoren mit Politikern weitestgehend einig, würden mit Wohlstandsverlusten für ihre vermeintliche Unvernunft bezahlen müssen. Die Konjunktur werde einbrechen, infolgedessen der Inlandskonsum zurückgehen und schließlich werde auch der Immobilienmarkt in sich zusammenfallen, wenn künftig die ökonomische Musik nur noch auf dem Kontinent spiele.

Vor dem Referendum im Juni 2016 hatten die für „Consensus Economics“ befragten Ökonomen durchschnittlich mit einem Wachstum der britischen Wirtschaft von 2,1 Prozent für das Jahr 2017 gerechnet. Nach dem Sieg der Brexiteers haben sie ihre Prognose schlagartig auf nur 0,6 Prozent gesenkt. Tatsächlich wuchs die britische Wirtschaft 2017 um 1,8 Prozent. Ganz offensichtlich haben die Volkswirte die negativen Auswirkungen zumindest für die kurzfristigen Konjunkturaussichten massiv überschätzt.

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Und das pflanzte sich auch in die Medien fort und hielt bis vor kurzem an. Nur ein paar Beispiele zur Erinnerung: „Viele Brexit-Unterstützer beharren darauf, dass sich selbst ein harter Brexit positiv auf die britische Wirtschaft auswirken würde. In Wirklichkeit gibt es schon jetzt Anzeichen dafür, dass das Land in eine Rezession schlittern könnte“, schrieb der London-Korrespondent der Wirtschaftswoche am 23. Juli 2019. „Johnsons Deal macht den Brexit noch viel schlimmer“ titelte die Welt am 30. Oktober. Im Artikel geht es um eine Studie des National Institute of Economic and Social Research (NIESR). Dieses „kommt zum Ergebnis, dass das Bruttoinlandsprodukt auf längere Sicht im Schnitt um 3,5 Prozent im Jahr hinter jenem Wachstum zurückbleiben wird, das bei einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft möglich gewesen wäre“. Im Wirtschaftsmagazin Capital sagte Christian Odendahl, Chefvolkswirt des Londoner Centre for European Reform (CER) im Mai 2019: „Nach unseren Berechnungen hat der Brexit die britische Wirtschaft schon jetzt ungefähr 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gekostet. Das heißt, hätte Großbritannien nicht für den Brexit gestimmt, wäre die britische Wirtschaft um 2,3 Prozent größer.“ Die gute weltwirtschaftliche Entwicklung hätte die Wirkung des Brexit nur kaschiert.

Doch nun, da die Unabhängigkeit Großbritanniens zur Tatsache geworden ist, sieht die Wirklichkeit ganz und gar nicht dramatisch aus. Im Gegenteil. Die britische Wirtschaft wuchs 2019 – im Angesicht des Brexit – viel stärker als die deutsche und die der Gesamt-EU. Und auf einmal sind auch die Prognosen positiv: Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für 2020 ein britisches Wachstum von 1,4 Prozent (Deutschland: 1,1 Prozent) und 1,5 Prozent (Deutschland: 1,4 Prozent) für 2021. Die Ökonomen der Berenberg Bank sind mit Prognosen von 1,7 und im nächsten Jahr um 2,1 Prozent noch euphorischer. Und die britischen Unternehmen selbst sehen es offenbar ähnlich: Die aktuelle Quartalsumfrage des britischen Industrieverbands stellt statt Krisenstimmung bei den Einkaufsmanagern den größten Optimismus seit 2014 fest. Der britische Einkaufsmanagerindex sprang im Januar deutlich über den Wert von 50, der Expansion von Kontraktion scheidet. Von einer Kater- oder gar Krisenstimmung durch das Ausscheiden aus der EU kann also keine Rede sein. Auch von Arbeitslosigkeit ist nicht viel zu spüren: Die Quote im Königreich liegt bei nur 3,8 Prozent – niedriger als in Deutschland.

So muss nun der notorisch Johnson-feindliche Spiegel, um die bis vor kurzem eifrig propagierten Brexit-Unkenrufe mit der aktuellen Wirklichkeit zu vereinbaren, titeln: „Der Milliardenschaden, den die Briten kaum spüren“. Als Kronzeugen ziehen sie die Nachrichtenagentur Bloomberg heran, mit einer Studie „Die Kosten des Brexit für das Vereinigten Königreich: 130 Milliarden Pfund, Tendenz steigend“. Unbestreitbar ist, dass das britische BIP-Wachstum im Referendumsjahr 2016 deutlich höher war als heute. Aber das trifft schließlich auch auf Deutschland zu. Auch Großbritannien ist eben nicht unabhängig von der Weltkonjunktur. Bloomberg und der Spiegel wollen also ebenso wie das NIESR und das CER weis machen, dass ohne Brexit alles noch viel besser wäre. Ein beliebter Ökonomen-Trick: Hypothetische Gewinne werden zu (virtuellen) Verlusten uminterpretiert. 

Tatsächlich weiß natürlich selbst der klügste Ökonom nicht, wie sich die britische Wirtschaft bei einem anderen Referendumsergebnis entwickelt hätte. Vermutlich hat sich die jahrelange Ungewissheit und auch die teilweise Auflösung von britisch-europäischen Wertschöpfungsketten negativ ausgewirkt. Aber die katastrophalen Rezessionsvorhersagen sind eben allzu offensichtlich nicht eingetroffen. Und ein Schaden, den man nicht spürt, ist eben kein wirklicher Schaden, sondern eine Abstraktion.

Eindeutig erfüllt hat sich letztlich nur eine Prophezeiung der Unkenrufer: Das britische Pfund hat an Wert gegenüber dem Euro deutlich eingebüßt. Das schwächt die Kaufkraft britischer Konsumenten und Unternehmen für Importwaren. Aber eine schwache eigene Währung hat für Unternehmen bekanntlich auch positive Folgen: Britische Exporte werden attraktiver und das britische Handelsdefizit geringer.

Profitorientierte Investoren haben im Gegensatz zu EU-Enthusiasten wenig Grund, entsetzt über die Briten zu sein, sondern freuen sich offenbar über ein von Brüsseler Bürokraten-Vorgaben befreites Land. Nachdem jetzt die Unsicherheit über einen vertragslosen Brexit beseitigt ist, kehrt mit der Planungssicherheit offenbar auch die Investitionsbereitschaft der Unternehmen zurück. Die Kredite an Unternehmen, die 2018 stagnierten, wachsen jedenfalls jüngst wieder deutlich. 

Nun warnt sogar der Bundesbank-Vorstand Joachim Wuermling vor einer „Art Offshore-Finanzplatz in Europa“. In Europa, ja, aber eben außerhalb der EU, die von Investoren offenbar gerade nicht als Reich der unternehmerischen Zukunft betrachtet wird. Und eben nicht nur ein Finanzplatz, der Geld verwaltet, sondern auch Dienstleistungen und Waren produziert.

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Was Großbritannien für Investoren außerdem attraktiv macht: Die neue konservative Regierung unter Boris Johnson hat zugleich mit dem Brexit eine expansive Investitionspolitik in Gang gesetzt, die die Reindustrialisierung befördern soll: Niedrigere Steuern und höhere staatliche Ausgaben. Finanzminister („Schatzkanzler“) Sajid Javid wird, so wird erwartet, im nächsten Haushaltsplan, den er Mitte März vorlegt, noch draufsatteln. Analysten der Berenberg-Bank schätzen, dass Javids Finanzpolitik 2020 einen Wachstumsimpuls in Höhe von rund 0,6 Prozentpunkten auf das Bruttoinlandsprodukts (BIP) auslösen könnte. Nebenfolge ist ein wohl wachsendes Staatsdefizit. Das Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel erwartet, dass es von 1,6 Prozent des BIP 2018 auf 3,0 Prozent anwächst. 

Das dürfte für die ökonomische Zukunft der Insel und damit auch die politische Bilanz des Brexit entscheidend werden: Wenn die Regierung den Staatshaushalt nicht in die roten Zahlen abdriften lässt, was am Markt für Staatsanleihen aufmerksam beobachtet werden wird, könnte der Brexit zum Ausgangspunkt einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte werden. Unbelastet einerseits von der in Europa nur auf die lange Bank geschobenen Euro-Krise. Und unbehindert auch von den Fesseln der gemeinsamen Außenhandelspolitik der EU.

Johnson und seine Regierung haben nämlich schon deutlich gemacht, dass sie die alte Freihandelsstradition wieder aufnehmen werden. So haben sie eine Liste für rund 16.000 international gehandelte Produkte erstellt, in der festgelegt ist, welche davon zollfrei sein sollen, falls es in den nächsten 12 Monaten kein Freihandelsabkommen mit der EU geben sollte. Nach Angaben von Ökonomen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) stehen darin nur 768 Produkte, für die überhaupt Zölle vorgesehen sind. Alle anderen sollen zollfrei sein. Das heißt, die Briten wären künftig für dritte Handelspartner deutlich attraktiver als die EU. 

Großbritannien verbessert seine Verhandlungsposition“ ist die Überschrift dieser aktuellen IfW-Studie. Denn die Briten, so Autor und IfW-Chef Gabriel Felbermayer, haben die 768 Produkte „so schlau gewählt, dass sich das Land gleichzeitig die Versorgung durch günstige Importe aus Drittländern sichert, trotzdem hohe Zolleinnahmen verzeichnet und Exporteure aus der EU besonders betroffen wären.“

Premierminister Boris Johnson hat also für die Verhandlungen mit Brüssel einen langen Hebel und muss nicht, wie man sich das dort wohl gewünscht hätte, vor der Kommission zu Kreuze kriechen. Der ökonomische Erfolg des auf nationale Souveränität und gleichzeitig internationalen Handel setzenden Post-Brexit-Großbritanniens, könnte sehr gut anhalten und die Brüsseler Kommission wie die integrationsfreundlichen Regierungen, nicht zuletzt die in Berlin, noch in arge Erklärungsnöte bringen.

Die Kritik an dem zentralwirtschaftlichen Zugriff auf Unternehmen und Konsumenten, den jetzt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Zeichen ihres Green Deal festigen will, dürfte neue Argumente gewinnen. Und die Abschreckungswirkung auf euroskeptische Bewegungen, die man sich in Brüssel von einem desaströsen Brexit hinter vorgehaltener Hand erhoffte, dürfte dann völlig verpuffen. 

„Wenn der Brexit gefühlt ein Erfolg wird, ist er der Anfang vom Ende der EU“, sagte Manfred Weber, der einstige CSU-Kandidat für die Kommissionspräsidentschaft, im Interview mit der Welt. Der Mann hat anders recht, als er meint.

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