Tichys Einblick
Richtig, aber doch nicht so richtig

Der Ex-Minister von der traurigen Gestalt: De Maizière blickt auf 2015 zurück

Der frühere Innenminister Thomas de Maizière behauptet, unterm Strich habe man 2015 mehr richtig als falsch gemacht. Doch in seinen Interviews offenbart er vor allem eins: Hader mit sich selbst und der kollektiven Feigheit der Bundesregierung.

screenprint / RTL

Wenn dereinst mal eine große Studie über den Typus des deutschen Berufspolitikers im frühen 21. Jahrhundert geschrieben werden sollte, dann wird Thomas de Maizière darin sicher auch ein bißchen Aufmerksamkeit verdienen. Regierungspolitik in der Merkel-Ära, so muss man wohl folgern, wenn man hört und liest, was der frühere Bundesinnenminister nun nachträglich von sich gibt, ist ein ziemlich erbärmliches Geschäft.

Klar, als ehemaliger Minister hat man viel Zeit und womöglich sehnt man sich auch nach der öffentlichen Aufmerksamkeit, die im Amt alltäglich und nun selten geworden ist. Nur so ist dieses Interview nachvollziehbar, das Thomas de Maizière einem RTL-Reporter über jene Zeit gegeben hat, als er im Zentrum des Geschehens stand: den Herbst 2015. Dennoch fragt man sich: Warum tut der Mann sich und seinen Zuschauern dieses Trauerspiel an? 

Die Frage würde sich nicht stellen, wenn er eine saftige Abrechnung mit seiner damaligen Chefin, der immer noch amtierenden Bundeskanzlerin, zu bieten hätte, oder wenn er – was von wirklicher Größe zeugte – sein eigenes Versagen in der Stunde der Bewährung bekennen würde. Aber das, was er da sagt, ist weder das eine noch das andere, sondern schwankt zwischen argumentsfreier Rechtfertigung – „Die Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen … war richtig“ – und Eingeständnis dessen, was doch ohnehin offensichtlich ist. 

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„Überrollt wurden wir nicht“, sagt der Ex-Minister auf die Eingangsfrage, die dies unterstellt. Doch dann gibt er sofort zu: „Aber den Takt für die Entscheidungen, den haben die Flüchtlinge vorgegeben“ und schließlich: „… dann war im Grunde alles, was wir taten, dann schon zu spät“. Also letztlich wohl doch überrollt. 

Die Entscheidung die Grenzen nicht zu schließen (die ja wohl eigentlich die Bundeskanzlerin und nicht ihr Minister traf) würde er heute „wieder so treffen, vielleicht etwas anders kommunizieren“. Aber de Maizière wirkt doch während des gesamten Gesprächs nicht so, als ob er wirklich ganz und gar im Reinen sei mit dem, was er damals tat und heute sagt. Vor allem wird das deutlich, wenn er davon spricht, dass er seine Gefühle zurückhalten musste, um politische Entscheidungen zu fällen. Das soll wohl sympathisch und staatsmännisch klingen. Aber das, was er dann konkret sagt, passt dazu nicht. 

Denn das Gefühl, das er erwähnt, ist eben genau das, das damals jene, die wie er politische Entscheidungen zu treffen hatten (und jene, die darüber in der Presse berichteten), gerade eben nicht zurückhielten, sondern öffentlich bekundeten und zur Handlungsbegründung machten: nämlich Mitleid angesichts von Einzelschicksalen. De Maizière spricht etwa über eine vergewaltigte Frau, die zudem schwanger war. 

„Im Zweifel muss die Verantwortung als Minister Vorrang haben“, sagt de Maizière und klingt damit so, als wolle er sich und den Zuhörern nachträglich einreden, dass er damals Entscheidungen getroffen habe, für die er das Mitleid mit den einzelnen Zuwanderern hintangestellt habe. Er tut so, als sei er damals so hart gewesen im Interesse seiner ministeriellen Verantwortung, wie er und all die anderen Regierungspolitiker es damals ja gerade eben nicht waren. Als habe damals nicht Sentimentalität das Handeln bestimmt. 

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Schon einmal hat de Maizière ein ähnlich verdruckstes, zwischen Feigheit und Ehrlichkeit mäanderndes Interview gegeben, nämlich im Februar 2019 gegenüber Bild. Auch damals brachte er es nicht fertig, mit der Kanzlerin und ihrem gehorsamen Ex-Innenminister (also seiner eigenen Rolle damals) zu brechen. Aber er sprach davon, dass Politik und Medien zu abhängig von der öffentlichen Stimmung gehandelt hätten: „Insgesamt haben wir uns zu sehr mitreißen lassen.“ Aber dass das, wozu man sich mitreißen ließ, falsch war, traut er sich dann eben auch wieder nicht zu sagen.

Und auch damals ließ er indirekt einen Hader mit seiner eigenen Weichheit durchblicken: „In der damaligen Stimmung … hätte Deutschland diese harten Bilder, die das bedeutet hätte, und ich hätte keine Mühe gehabt, harte Entscheidungen zu treffen, aber die Öffentlichkeit hätte diese harten Bilder, Wasserwerfer gegen Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen, nicht ausgehalten.“ Die Öffentlichkeit? Die hat nichts auszuhalten. Es wäre darum gegangen, dass die Regierenden den Widerwillen der Öffentlichkeit aushalten – so wie starke und von ihrer Sache überzeugte Regierungspolitiker ihre Politik eben immer auch auch gegen Proteste und unter persönlichen Risiken durchzusetzen bereit sein müssen. Sonst sind sie eben nichts weiter als opportunistische Machterhaltungstaktiker.

Und dann offenbarte de Maizière in einem einzigen Satz, was von der (damaligen) Bundesregierung zu halten ist: „Und dann wären wir eingeknickt.“ Aber selbst dieses Eingeständnis ließ de Maizière nicht einfach so stehen, sondern er bemühte noch die Feigheit der Bundeskanzlerin (und seine eigene) als Rechtfertigung dafür, eben gar nicht erst konsequent im staatlichen Interesse gehandelt zu haben, indem er anfügte: „…und dann wäre der Sogeffekt umso größer gewesen.“ 

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