Tichys Einblick
Europäische Union in der Krise

Corona-Bonds: Die europäische Haftungsunion ist auch ohne sie längst da

Die EU offenbart sich einmal mehr als ungeeignet zur Krisenbewältigung. Sie ist nicht zum Handeln geschaffen, sondern zur gemeinsamen Haftung. Der Widerstand der Bundesregierung gegen gemeinsame Corona-Anleihen ist ein Scheingefecht.

ARIS OIKONOMOU/AFP via Getty Images

Eigentlich kann sich niemand ernsthaft wundern über das Bild, das die EU in dieser Krise abgibt. Wenn die Not groß ist, wenn es möglicherweise um Leben oder Sterben geht, müssen Entscheidungen schnell kommen und daher die Kompetenzen klar und eindeutig sein. Da kann man nicht vorher ein Gipfeltreffen machen.

Die Römische Republik, sonst ein Gemeinwesen, das auf die Beschränkung von Machtbefugnissen größten Wert legte, weswegen die höchsten Staatsämter, das der Konsuln vorneweg, stets auf mindestens zwei Köpfe verteilt wurden, hatte daherfür Situationen großer Gefahr institutionalisierte Ausnahmeregeln: als Hannibal vor den Toren stand, ernannte der römische Senat einen Dictator auf Zeit, einen, der sagt (lat. „dicere“), was zu tun ist. Einen. Nicht zwei oder 27.

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Weil die EU im Gegensatz zu den Träumerein mancher Schwärmer keine Republik ist, und wohl auch nie eine sein wird, wird es aber nie diesen einen geben, der sagt, was in einer Grenzsituation zu tun ist. Darum ist es auch nicht angebracht, die EU-Kommission oder gar den Staatenbund als solchen in dieser konkreten Krise mit Häme zu bedenken. Es ist eigentlich nicht empörend, dass die EU in dieser Krise wie auch schon in all denen der jüngeren Vergangenheit, in der Finanz- und Eurokrise ebenso wie in der so genannten Flüchtlingskrise und auch im Angesicht der Kriege in Syrien und Libyen, letztlich hinter dem Nebel der Phrasen der Gemeinsamkeit als weitgehend handlungsunfähig dastand, bis sich die Mitgliedsstaaten geeinigt hatten. Empörend, nein, vielmehr bedenklich oder gar beängstigend ist es aber, dass offenbar die tonangebenden Kreise im politischen Betrieb und in der Öffentlichkeit dies von einem Staatenbund mit 27 oder nunmehr 26 Mitgliedsstaaten erwarten. Aber vielleicht tun sie auch nur so.

Diese Erwartungshaltung, dieser Anspruch ist vermessen. Und wenn in der politischen und meinungsbildenden Klasse der europäischen Länder noch eine Spur an Lernfähigkeit vorhanden ist, so sollte dies doch die Lehre der bisherigen und dieser großen Krise sein. „Erkenne dich selbst!“ Diese Inschrift am Orakel von Delphi ist eine der geistigen Grundlagen der westlichen Zivilisation. Die Europäer, vor allem die in Brüssel und den Hauptstädten politische und publizistische Verantwortung tragen, müssen erkennen, was ihre Union sein kann und was nicht. Wer zu spät kommt mit solcher Erkenntnis, den bestraft das Leben. 

Die größten Meister der Illusionierung ihrer selbst und ihrer Mitbürger sitzen in Berlin. Die Bundesregierung hat sich in der Videokonferenz des Europäischen Rates (Wieso ist man eigentlich nicht schon vor Corona darauf gekommen? Sehr viel Steuergeld und CO2 hätte gespart werden können) also quergestellt gegen die Einführung so genannter Corona-Bonds. Klar, das wäre nur ein anderes Wort für die im Rahmen der Griechenlandkrise schon diskutierten und von Merkel abgelehnten Euro-Bonds. Klar, das würde die Haftungsunion bedeuten.

Aber diese Haftungsunion besteht ja eigentlich ohnehin schon weitgehend. Nur eben auf dem Umweg über die EZB, die Staatsanleihen aufkauft und damit indirekte Staatsfinanzierung betreibt. Nun in der Corona-Krise, hat die EZB ohnehin schon die letzten Hürden für sich selbst beseitigt. Sie kann ohne beschränkende Quoten Staatsanleihen bestimmter Mitgliedsstaaten kaufen. Und über die EZB-Bilanz haften alle anderen Staaten, beziehungsweise letztlich deren Bürger mit. Dagegen gab es keinen vernehmbaren Protest aus Berlin. Und die Stabilitätskriterien der Währungsunion sind auch aufgehoben. Ob befristet oder nicht, ist letztlich wurscht. Wirklich durchsetzen konnte sie mangels Sanktionsmöglichkeit ohnehin niemand. 

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Es ist nichts weiter als ein Scheingefecht, wenn die Bundesregierung nun die offene Haftungsunion durch gemeinsame Euro-Corona-Anleihen ablehnt. Sie will dadurch offensichtlich noch immer so tun, als ob sie die Nichthaftung der Deutschen verteidige. Doch mehr als Nebelkerzen kann sie dagegen gar nicht feuern. Wir sitzen eben dank der Währungsunion tatsächlich mit allen Mitgliedsländern in einem Boot. Eine Ausstiegsoption gibt es de facto nicht – auch weil sich die gesamte politische Klasse in einer Art Nibelungentreue an den Euro gekettet hat. 

Wäre die Kanzlerin und wäre die gesamte politische Klasse ehrlich zu sich selbst und zu den Bürgern, für die sie Verantwortung tragen, hätte sie für klare Verhältnisse gesorgt und den Corona-Bonds zugestimmt. Mit dieser Zustimmung hätte sich Deutschland wenigstens in Brüssel das eine oder andere Zugeständnis einhandeln können. Dann müsste Merkel, wenn sie ehrlich wäre, nochmal im Fernsehen vor ihre Bürger treten und sinngemäß sagen: „Wir wollten diese EU und den Euro – und ihr wart einverstanden, zumindest habt ihr es zugelassen. Wir haben uns nie der unbequemen Aufgabe gestellt, die EU als ein Forum des Kampfes für eure materiellen Interessen zu sehen, wie es die anderen taten. Jetzt ist es dafür zu spät. Nun ist sie halt da, die Haftungsunion, und ihr werdet auf die eine oder andere Weise dafür bezahlen müssen.“ 

Doch man will den Bürgern lieber weiter das Märchen von der Nicht-Haftung erzählen. In der Hoffnung, dass sie in ihrer Mehrheit nicht so bald begreifen, dass Mario Draghi und nun Christine Lagarde sie auf mysteriösen Umwegen längst haftbar machen. Gerade jetzt, wo so viele Menschen nicht nur um ihre und ihrer Eltern Gesundheit, sondern auch um ihre Jobs und ihre wirtschaftliche Existenz fürchten, käme es natürlich nicht gut an, den Deutschen amtlich zu eröffnen, dass so schöne Worte wie „Europa“ und „Solidarität“ auch bedeuten, dass man für Dinge bezahlen muss, die andere verbockt haben. 

Wenn sich die Schleier dann doch lichten und die Auswirkungen auf den Wohlstand in Deutschland unübersehbar und spürbar werden, dürfte die Enttäuschung der Deutschen umso gewaltiger sein. Ihre Europa-Begeisterung dürfte die Corona-Krise nicht sehr lange überdauern.

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