Tichys Einblick
Zum 13. August 1961

Schluss mit dem um sich greifenden historischen Analphabetismus!

Unvermindert gerne wird „Rosas“ Satz zitiert: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“. Verschwiegen wird freilich, dass sie diese Freiheit explizit im Rahmen einer „Diktatur des Proletariats“ praktiziert wissen wollte, und nur dort.

West Berlin youths hold a cross up at the Berlin wall inscribed with the words, 'We Accuse', during rioting on the first anniversary of the building of the wall, 13. August 1962

© Keystone/Getty Images

Die Bürgerrechtlerin Freya Klier schrieb 2008 in einem Aufsatz mit dem Titel „Sozialistische Märchenstunde“: Seit dem Abgesang der dortigen Diktatur vergehe kein Jahr, in dem die DDR nicht in einem noch milderen Licht erscheine als im Jahr zuvor. Wörtlich: „Die DDR ist wieder da – und schöner noch als einst.“

Ja, stimmt, denn unter Alt und Jung greift hier ein historischer Analphabetismus um sich. Man schaue sich nur einmal das real nicht mehr existierende Wissen um die DDR an. Dieses Wissen ist – je jünger die Leute sind – skandalös unterbelichtet. Das ist ein Versagen der Schulpolitik und der Medien. Zumal ja immer weniger Menschen den 13. August 1961 in Ost und West bewusst miterlebten. Ich zum Beispiel als Zwölfjähriger in den Sommerferien 1961, als ich meine und andere Eltern nach dem 13. August mitten in Bayern besorgt Hamsterkäufe unternehmen und US-Panzer in ungewohnter Häufigkeit zu Manövern fahren sah.

Und heute? Laut Studien des „Forschungsverbundes SED-Staat“ der Freien Universität Berlin  kennt mehr als die Hälfte der Schüler das Jahr des Mauerbaus nicht. Nur jeder Dritte weiß, dass die DDR die Mauer gebaut hat. Nur ein Viertel der west- und ein Siebtel der ostdeutschen Schüler haben Kenntnis von der bis 1981 mindestens 164mal praktizierten und erst 1987 per Gesetz abgeschafften Todesstrafe in der DDR. Mehr als zwei Drittel aller Schüler finden es gut, dass in der DDR jeder einen Arbeitsplatz gehabt habe. Außerdem sei es der Umwelt – und den Rentnern – dort besser gegangen als in der Bundesrepublik.

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All diese Unkenntnis ist kein Wunder, wenn man sich anschaut, wie erfolgreich das Nicht-Bemühen der Kultusminister seit Jahrzehnten ist, einen Beschluss zur Behandlung der deutschen Frage im Unterricht zustandezubringen. Nicht einmal 1995, fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, konnten sich die 16 deutschen Bildungsminister auf die Verabschiedung einer Empfehlung mit dem Titel „Darstellung Deutschlands im Unterricht“ verständigen. Der Entwurf dazu wurde von der Kultusministerkonferenz (KMK) nur „zur Kenntnis genommen“. Flankiert war das Nicht-Zustandekommen eines KMK-Beschlusses von Äußerungen Reinhard Höppners, des damaligen SPD- Ministerpräsidenten Sachsen-Anhalts, dass die Ex-DDR im KMK-Entwurf zu schlecht wegkomme. Ja mehr noch: Die Höppners Landesregierung mittragende PDS meinte verlauten lassen zu müssen, dass „eine Beschäftigung mit Diktaturen künftig kein Schwerpunkt im Geschichtsunterricht“ sein solle. Letztlich ist das KMK-Papier also am Widerstand einer PDS-geduldeten Minderheitsregierung gescheitert. Dem zu dieser Zeit amtierenden Kultusminister, Heinz Reck (SPD), passte nicht, dass in dem KMK-Entwurf ein Blick auf das Unrecht in der DDR, auf die Verfolgung in der DDR und auf die Massenflucht aus der DDR geworfen wurde. Das KMK-Papier, so Reck, erinnere ihn an „SED-Propaganda, nur mit veränderten Vorzeichen“, und er verwahrte sich dagegen, dass die DDR darin als „System politischer Unfreiheit“ bezeichnet werde. Neu aufgriffen hat die KMK den Beschlussentwurf bis heute nicht mehr.

Damit ist ein Teil der Legendenbildungen um die DDR erklärt. Eine besonders große Rolle freilich spielt die über Jahre praktizierte Geschichtspolitik von noch höher angesiedelten politischen Kreisen. Der spätere Ministerpräsident Thüringens (Ramelow, LINKE) – ein Westimport übrigens – wollte die DDR Anfang 2009 nicht als Unrechtsstaat bezeichnet wissen; er bezweifelt öffentlich, dass es an der Grenze einen Schießbefehl gab. Wo die LINKE steht, war und ist freilich die SPD oft nicht weit entfernt. Der von 2008 bis 2017 amtierende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Erwin Sellering (SPD, ebenfalls Westimport) fand es im Frühjahr 2009 falsch, die DDR als totalen Unrechtsstaat zu verdammen. Für Wolfgang Thierse, den ehemaligen Bundestagspräsidenten (SPD), waren die Kindergärten, die Schulen und das Gesundheitswesen die „sympathischen Elemente“ der DDR.

Eigenartig! Während sich der Widerstand gegen ein Vergessen der Greuel des Nationalsozialismus mit der zeitlichen Entfernung vom „Tausendjährigen Reich“ immer engagierter formiert, rankt sich mit zunehmendem Abstand vom Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“ immer mehr Legendenbildung um die DDR. Wahrscheinlich haben viele DDR-Nostalgiker ihr „68“ und die Fragen der Jungen („Was habt ihr in der DDR gemacht“) noch vor sich. Es ist fast zu wünschen.

Dazu passt, – und damit ist man wieder bei Geschichtspolitik angelangt – , dass die Todesmauer fast restlos abgebaut wurde; dass die Zahl ostdeutscher Schüler, die „Hohenschönhausen“ besuchen, permanent zurückgeht; dass „Karl und Rosa“ (Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg) gefeiert werden wie eh und je. Unvermindert gerne wird „Rosas“ Satz zitiert: „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“. Verschwiegen wird freilich, dass sie diese Freiheit explizit im Rahmen einer „Diktatur des Proletariats“ praktiziert wissen wollte und dem Feinde das Wort gelten sollte: „Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!“ Das hinderte das fast nur noch „rot“ regierte Berlin nicht daran, bereits mehr als zehn Gedenkstätten für Rosa Luxemburg zu haben.

Dass die DDR ein Staat hinter Gittern war; dass an der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland mindestens eintausend Menschen ihr Leben lassen mussten – all dies hielt einen Nobelpreisträger Günter Grass  (+2015) nicht davon ab, die DDR eine „commode Diktatur“ zu bezeichnen. Mit solcher Geschichtsklitterung muss Schluss ein – spätestens jetzt ab dem 13. August 2017.