Tichys Einblick

Kanzlerin der ideellen Leere

Als der Stuttgarter CDU-Parteitag im Mai 2010 Merkel auftrug, Deutsch als Sprache der Bundesrepublik ins Grundgesetz zu bringen, wischte sie dies verärgert beiseite, den Beschluss des Essener Parteitags im Dezember 2016 gegen den Doppelpass ebenso.

© Alexander Koerner/Getty Images

Schularbeiten in der Art von Erörterungen oder – so hießen sie früher – von Besinnungsaufsätzen beginnen gerne und oft mit Definitionen. Verfahren wir nach dieser Methode und fragen: Was ist ein Wendehals, was ist ein Nihilist?

Nun, ein Wendehals kann zweierlei sein: erstens ein Vogel (Jynx torquilla; in offenbar weiser Voraussicht ausgerechnet 1988 Vogel des Jahres), zweitens ein politisch, ideologisch, weltanschaulich sehr wendiger, flexibler, opportunistischer Zeitgenosse. Wir haben in den Wendejahren 1989/1990 genug von dieser Spezies erlebt.

Und ein Nihilist? Er ist ein Mensch, für den nichts (lateinisch: nihil) zählt außer der eigenen Befindlichkeit, für den es keine Maßstäbe, keine Wahrheiten gibt außer Nietzsches „Wille zur Macht“.

Um zur Conclusio zu kommen: Was ist die Schnittmenge von Wendehals und Nihilist? Eindeutig Merkel! Das ist keine boshafte Unterstellung. Merkel ist realiter die Kanzlerin der ideellen Leere. Sie hat keine Scheu, das auch öffentlich zu bekunden. „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial …“ – das gab sie in der ARD-Sendung „Anne Will“ am 22. März 2009 von sich. Sie tat dies allerdings unvollständig. Statt „christlich-sozial“ (Achtung CSU!) hätte sie besser „Herz-Jesu-Sozialistisch“ gesagt.

Ihr praktisch-politisches Handeln ist entsprechend. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Das sollen Adenauer oder auch Heuss einmal gesagt haben, ohne jedoch Grundüberzeugungen preiszugeben. Was interessieren mich meine Grundwerte von gestern? Das könnte Merkel von sich geben. Siehe Energiewende, siehe Abschaffung der Wehrplicht, siehe Doppelpass, siehe Grenzen als offene Scheunentore, siehe Griechenlandhilfe und jetzt siehe neues Familienbild und Ehe für alle!

Bislang meinte man, Merkel habe 180-Grad-Wendungen gemacht. Richtig! Aber hat Merkel ihren Hals nicht sogar um 360 Grad gedreht? Zurück zu den Grundfesten, die ihre erste (prägende?) politische Sozialisation ausmachten? Für diese Sozialisation kann sie nichts. Aber Sozialisation sollte eigentlich ein lebenslanger Prozess sein. Siehe den Slogan vom lebenslangen Lernen! Merkel ist dagegen resistent – resistent gegen alles Zureden, selbst wenn es sich um Parteitagsbeschlüsse mit überwältigenden Mehrheiten handelt. Als ihr der Stuttgarter CDU-Parteitag im Mai 2010 auftrug, die deutsche Sprache als Sprache der Bundesrepublik ins Grundgesetz zu bringen, wischte sie dies verärgert beiseite. Als ihr der Essener Parteitag Anfang Dezember 2016 mitgab, sich gegen den Doppelpass zu wenden, atomisierte sie auch diesen Beschluss – der Parteitag war noch nicht zu Ende – in einem Interview.

Dass die von ihr im Sommer 2015 verfügte Öffnung der Grenzen mehrfach gegen geltendes deutsches und europäisches Recht verstieß, dürfte bekannt sein, wenngleich es die Hofberichtherolde der Slomkas, Schaustens, Klebers geflissentlich übergingen und nach wie vorübergehen. Was da im obersten politischen Bereich und parteiintern in der CDU abläuft, kann man nur noch bei sehr viel Wohlwollen als Demokratur bezeichnen. Wann endlich rührt sich die Selbstachtung ihres Parteivolkes? Aber leider will es das Volk zu rund 40 Prozent so „alternativlos“!

Und dann lässt sich die Kanzlerin auch noch gnädig herab, die Frage der „Ehe für alle?“ zur Gewissensentscheidung zu erklären. Steht Merkel jetzt also über dem Grundgesetz? Entscheidet sie darüber, wann Artikel 38 des Grundgesetzes gilt und wann nicht: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages … sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

„Ich möchte die Diskussion mehr in die Situation führen, dass wir … dass es … dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke“. Das hat sie bei einer Veranstaltung der Frauenzeitschrift Brigitte am 26. Juni im Berliner Maxim-Gorki-Theater in Berlin aus einem Plüschsessel heraus von sich gegeben. Eine verfassungsrechtlich höchst bedenkliche Aussage! Verräterisch zugleich, siehe das Wort „durchpauken“.

Noch einmal zurück zur Wendigkeit: In einem Punkt ist Merkel alles andere als wendig oder gar gewandt. Sprachlich! Der Brigitte-Satz ist politisch brisant, sprachlich ist er eine Lachnummer.


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