Tichys Einblick
Oder doch nur Schaufensterpolitik?

Geschöntes neues Abitur

Die beiden letzten Schuljahre vor dem Abitur müssen hinsichtlich ihrer Ansprüche inhaltlich fixiert und bei den Prüfungsmodalitäten auf anspruchsvoller Ebene vergleichbar gemacht werden. Es muss Schluss sein mit dieser weichgespülten Abiturvollkaskopolitik.

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In diesen Tagen werden deutschlandweit wieder mehr als 350.000 Abiturzeugnisse ausgegeben. Sie werden gefeiert, betanzt und vor allem begossen werden. „Reifezeugnisse“ hießen sie früher. Formaljuristisch sind es – vorbehaltlich der Numerus-Clausus-Studienfächer – Atteste einer Studierberechtigung; Atteste einer Studierbefähigung sind sie in vielen Fällen längst nicht mehr.

Und am Ende sind alle wieder rundum zufrieden: Die Schüler und deren Eltern werden glücklich sein, weil die Noten immer besser werden. Viele einzelne Gymnasien werden sich in der Lokalpresse als Schule mit einem Notenschnitt von 2,00 oder gar 1,90 und einem „Einser“-Anteil (Noten 1,0 bis 1,9) von 45 Prozent inszenieren. Und die Kultusminister werden sich auf die Schultern klopfen, weil sie jetzt angeblich ein „gerechtes“ Abitur für ganz Deutschland auf den Weg gebracht haben.

Echt stark? Nein, denn wer hinter die Fassade schaut, wird festhalten müssen: Alles Schaufensterpolitik! Es stimmt zwar: Die Kultusminister haben einen so genannten Aufgabenpool in den Fächern Deutsch, Mathemeatik, Englisch und Französisch begründet, der für das Abitur ab 2017 galt. Damit sollen die Abiturniveaus der Länder angeglichen werden. Nach oben oder nach unten?, fragt man unwillkürlich! Wie auch immer: Die Bundesländer konnten sich jetzt bei ihren Abiturprüfungen aus einem gemeinsamen Aufgabenpool „bedienen“. Verantwortlich für die Ausarbeitung dieser Poolaufgaben ist das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Humboldt-Universität Berlin.

Schöne neue Abitur-Welt also?

Nein, viel zu kurz gesprungen! Denn die Kultusministerkonferenz (KMK) setzt hier nur beim geringeren Teil der Abiturgesamtwertung an. Sie vernachlässigt dabei, dass zwei Drittel der Abiturnoten aus den Leistungen der letzten beiden Schuljahre bestehen und die eigentliche Abschlussprüfung nur ein Drittel der Wertung ausmacht. Und gerade bei diesen zwei Dritteln der Abiturwertung, also bei den zwei Schuljahren vor dem Abitur, hapert es gewaltig. Hier gehen die Anforderungen in den einzelnen Bundesländern weit auseinander. Besonders augenfällig wurde dies an zwei Bundesländern, die in puncto Anspruch ohnehin regelmäßig aus dem Ruder laufen, sprich: Ansprüche bereits die ganze Oberstufe hindurch gerne verwässern.

Quantität und Qualität sind reziprok
Akademisches Prekariat
Beim Mathematikabitur in Brandenburg etwa stellte sich heraus, dass an rund einem Fünftel der Schulen die Logarithmusfunktion im Unterricht gar nicht behandelt wurde. Das Schulministerium gewährte den Abiturienten deshalb eine zweite Chance, das Mathe-Abitur zu schreiben. 40 Prozent der 6.000 Abituranwärter Brandenburgs nahmen dieses Angebot an. Oder Hamburg: Dort hatte man die angehenden Abiturienten im Dezember 2016 eine Probeklausur in Mathematik schreiben lassen. Das Ergebnis fiel mit einem Notenschnitt von 3,9 nicht berauschend aus. Und was machte der Schulsenator? Er schenkte jedem Prüfling eine ganze Note und hob die Durchschnittsnote auf 2,9 an.

Aufzudecken wäre ferner der Wildwuchs an Regeln der 16 Länder für die Abiturfächer, die mündlich abgeprüft werden. Auch hier werden Ansprüche großzügig untertunnelt. In Bayern beispielsweise muss sich ein Prüfling bei einem mündlichen Prüfungsfach Fragen aus drei von vier Halbjahren gefallen lassen. Zu Beginn der 30 Minuten umfassenden Prüfungszeit muss er ein maximal zehnminütiges Eingangsreferat halten, dessen Thema er 30 Minuten vor der Prüfung eröffnet bekommt. In Hamburg dagegen bezieht sich die mündliche Prüfung auf nur zwei von vier Halbjahren, der einleitende Schülervortrag dauert 15 Minuten, soweit es sich um eine sogenannte Präsentationsprüfung handelt. Und: Das Präsentationsthema bekommt der Kandidat zwei Wochen vor dem Prüfungstermin mitgeteilt.

Weder vergleichbar noch gerecht

Zurück zum Aufgabenpool: Nehmen wir ein fiktives Beispiel aus einem Bundesland mit fünf Abiturprüfungsfächern, darunter drei, die schriftlich, und zwei, die mündlich abzulegen sind. Welchen Notenanteil macht eine Abitur-Poolaufgabe eines Abiturienten dann in seinem Abiturzeugnis aus? Nun, die Abiturprüfung selbst macht, siehe oben, nur ein Drittel der Abiturgesamtleistung aus. Ein Prüfungsfach von fünfen macht ein Fünftel der Abschlussprüfung aus. Rechnerisch ausgedrückt: Ein einzelnes Abiturprüfungsfach schlägt sich mit einem Fünftel von einem Drittel (das ist ein Fünfzehntel) in der Abiturnote nieder. Rechnen wir weiter: Nun ist es etwa im Abiturfach Deutsch in der Regel so, dass fünf verschiedene Themen zur Auswahl durch den Prüfling gestellt werden. Erwischt der Prüfling dabei nicht die Poolaufgabe unter den fünf Aufgaben, dann schlägt die Poolaufgabe mit null Prozent zu Buche. Erwischt er sie, dann schlägt diese Poolaufgabe mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel mal einem Fünftel mal einem Fünftel (0,33 x 0,2 x 0,2) zu Buche. Das ist ein Fünfundsiebzigstel bzw. das sind 1,3 Prozent der Abiturgesamtwertung.

Und das soll mehr Vergleichbarkeit sein? Das soll gerecht sein? Ja, aber nur dann, wenn mit Gerechtigkeit Gleichheit auf niedrigem Niveau gemeint ist!

Nein, liebe Kultusminister, was ihr da macht, ist populistische Schaufensterpolitik. Hört endlich auf, euch und eurer Klientel etwas vorzumachen. Ihr müsst endlich ansetzen an allen Fächern, auch an den besonders beliebten vermeintlich einfacheren Fächern wie Religion und Biologie; und ihr müsst vor allem in der gymnasialen Oberstufe insgesamt ansetzen. Die beiden letzten Schuljahre vor dem Abitur müssen hinsichtlich ihrer Ansprüche inhaltlich fixiert und hinsichtlich Prüfungsmodalitäten auf anspruchsvoller Ebene vergleichbar gemacht werden. Es muss Schluss sein mit dieser weichgespülten Abiturvollkaskopolitik, weil Abiturzeugnisse sonst mehr und mehr zu ungedeckten Schecks werden und die Hochschulen über kurz oder lang dieses „Abitur light“ als Zugangsvoraussetzung durch ein „Aditur“, eine Zugangsprüfung, ersetzen werden.