Tichys Einblick
Wahl in Schleswig-Holstein am 7. Mai

Die Entmündigung der Bürger durch „leichte“ Sprache

Dahinter steckt das zunächst lobenswerte Unterfangen, leseschwache Bürger „mitzunehmen“. Ob sich diese dann aber mitgenommen oder erst recht infantilisiert sehen, steht auf einem anderen Blatt.

Election campaign billboards prior to state elections in Schleswig-Holstein on April 25, 2017 in Kiel, Germany

© Morris MacMatzen/Getty Images

Wahllokale bei den Wahlen zu den Kommunal- und Landesparlamenten sowie zum Bundestag und zum Europäischen Parlament sind in vielen Fällen öffentliche Einrichtungen, darunter viele Schulen, sehr häufig Grundschulen. So weit, so gut. Wenn man sich die Mitteilungen des Landes Schleswig-Holstein an seine Wahlbürger für die Landtagswahl vom 7. Mai 2017 anschaut, hat man den Eindruck, bei dieser Wahl wird nicht nur in Grundschulen gewählt, sondern es sollen bereits Grundschüler mitwählen. Denn die „Wahl-Benachrichtigungen“ für die Wahl zum „Land-Tag“ sind in einer Sprache, Orthographie, Grammatik und in einem Wortschatz verfasst, dass man meinen könnte, das Land zwischen den Meeren habe das Wahlalter auf sechs Jahre gesenkt.

Ausschnitt aus der Benachrichtigung zur Landtagswahl (Foto: Amt Bad Oldesloe)

Bloß kein zu langes Wort, keinen zu langen Satz, keinen zu komplizierten Casus verwenden! Das war wohl der pseudopädagogische Hintergedanke der Verfasser der „Wahl-Benachrichtigung“. Deshalb wurde aus dem Landtag der „Land-Tag“, aus dem Wählerverzeichnis das „Wähler-Verzeichnis“, aus dem Wahltag der „Wahl-Tag“, aus dem Wahlraum der „Wahl-Raum“, aus dem Wahlkreis der „Wahl-Kreis“, aus dem Wahlschein der „Wahl-Schein“, aus dem Vornamen der „Vor-Name“, aus dem Geburtsdatum das „Geburts-Datum“, aus dem Reisepass der „Reise-Pass“ usw. Stand da womöglich der Doppelname des Landes Pate? Am Ende kamen so gigantische Sätze zustande wie der folgende: „Sie können mit dem Wahl-Schein am Wahl-Tag auch in jedem anderen Wahl-Raum von Ihrem Wahl-Kreis wählen“. Aha, auch der Genitiv wurde geopfert.

Was steckt dahinter? Dahinter steckt das zunächst lobenswerte Unterfangen, leseschwache Bürger „mitzunehmen“. Ob sich diese dann aber mitgenommen oder erst recht infantilisiert sehen, steht auf einem anderen Blatt. Da hilft auch die – unbewiesene – Behauptung nicht weiter, 40 Prozent der Menschen bräuchten diese Sprache. Und auch der eigene „Duden“ mit dem Titel „Leichte Sprache. Theoretische Grundlagen, Orientierung in der Praxis“, 560 Seiten, 39.99 Euro, bringt hier wenig. Vom Umfang und vom Preis her dürfte dieser „Duden“ wohl eher kein Buch für sprachliche Leichtgewichte sein.

Angesagt sind jedenfalls kurze Sätze, ein enger Wortschatz, kein Konjunktiv, kein Passiv, keine Verneinungen, keine Zahlen ….. Vor allem dem Genitiv (vulgo: 2. Fall) ist – siehe oben – der Kampf angesagt. Er wird mehr und mehr durch einen Dativ ersetzt: nicht „trotz des schlechten Wetters“, sondern „trotz dem schlechten Wetter“. Oder weil er durch einen mit „von“ eingeleiteten Dativ ersetzt wird: also nicht „Vaters Jacke“, sondern „die Jacke von/vom Vater“. Oder eben: „in jedem anderen Wahl-Raum von Ihrem Wahl-Kreis“. Hier könnte man fast ätzen: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“. Allerdings gilt manchmal gerade bei rhetorischen Parvenüs das Umgekehrte. Der Genitiv wird zum Protz- und Prestigekasus, der auch in Verbindung mit Dativpräpositionen wie „entgegen“, „entsprechend“ gebraucht wird: „entgegen/entsprechend des Gesetzes“.

Da wollen Politiker „progressiver“ – also eigentlich aller – Parteien nicht zurückstehen. Ihre Programme gibt es immer häufiger in „Leichter Sprache“, und die Websites mancher Politiker lesen sich wie die Belehrungen in der Sendung mit der Maus: „Mein Name ist Toni Hofreiter. Ich bin ein Politiker von den Grünen … Ich möchte dass es gerecht zugeht. Und ich möchte die Umwelt schützen. … Für die Grünen arbeite ich, seit ich 14 Jahre alt bin … Viele Jahre lang habe ich bei den Grünen im Land-Kreis München mitgearbeitet … Ich habe mich gekümmert damit unser Fluss, die Isar, wieder sauberer und natürlicher wird“ (Abruf 15. August 2016). Am Rande nur: Es fehlen zwei Kommata! Kaum anders Kerstin Celina von den Grünen: „Ich komme aus der Nähe von Würzburg. Würzburg ist eine große Stadt. Ich wohne mit meiner Familie in einem Dorf in der Nähe von Würzburg. Ich fahre oft mit dem Bus in die Stadt. Ich war in Würzburg in der Schule. Nach der Schule habe ich studiert. An der Universität“ (Aufruf 30. April 2017). Ist doch schön!

Zurück nach Schleswig-Holstein: Getoppt wird die „Wahl-Benachrichtigung“ mit dem Hinweis: „Hier bekommen Sie Infos über weitere Sprachen“ – nämlich türkisch, arabisch, russisch und polnisch. Da soll sich noch einer auskennen. Darf man zwischen Flensburg und Kiel also auch wählen, wenn man ausschließlich oder „leicht“ Türkisch, Arabisch, Russisch oder Polnisch spricht? Das Friesische und Dänische fehlt übrigens. Nun, dann schauen wir mal! Unausgesprochen hoffen die Wahlgewaltigen in Ländern wie Schleswig-Holstein nämlich auf eine höhere Wahlbeteiligung durch „leichte“ Sprache. Dass dies aber ein Schuss in den Ofen werden kann, hat Bremen unwillentlich gezeigt. Dort stellte man die Briefe zur Wahl auf „Leichte Sprache“ um. Und das Ergebnis? Die Wahlbeteiligung sank von 55,5 im Jahr 2011 auf 50,2 im Jahr 2015.