Tichys Einblick

Deutschland regierungsamtlich im Wachkoma

Wachkoma ist, wenn ein Patient die Augen geöffnet hat, aber nichts wahrnimmt. Wenn man ihn anspricht, er aber nicht reagiert. Wenn Angehörige und Ärzte trotzdem die Hoffnung auf Genesung nicht aufgeben.

© Steffi Loos/Getty Images

Was hat das mit real existierender Politik in Deutschland zu tun? Eine Menge! Denn nach der Aushändigung der Entlassungsurkunden an die Minister und Parlamentarischen Staatssekretäre der GroKo durch den Bundespräsidenten, wie es Artikel 69 des Grundgesetzes vorsieht, bleiben diese auf unbestimmte Zeit im Amt. Sie bleiben sozusagen am Tropf, um die vital notwendigen Basisfunktionen zu erhalten, zum Beispiel Machterhalt, Bezüge, Pensionsansprüche usw. Und dass die Infusionen in alle Organe weiter fließen, dafür sorgt in Personalunion ein Kanzleramts- respektive Finanzminister.

Das Volk, also diejenigen, „die schon länger hier leben“, bekommt dann irgendwann mal wieder drei (sic!) Jahre Pseudo-Gewaltenteilung. Das heißt: Die Regierung kontrolliert das Parlament, die Exekutive (vulgo: das Kanzleramt) diktiert, was das Parlament als Repräsentant des Volkssouveräns an Gesetzen zu beschließen hat bzw. wo der Volkssouveräne komatös darüber hinwegsehen soll, wenn die Regierenden Gesetze und Verträge brechen (Beispiel: Grenzöffnung, Dublin-Abkommen).

Drei Jahre, da fehlt rechnerisch ein Jahr bei einer vierjährigen Legislaturperiode (Legislatur – welch euphemistischer Begriff!). Das ist rasch aufgeklärt: Ein halbes Jahr braucht man vor einer Wahl, um das Stakkato an Propaganda ins Hochfrequente zu steigern. Und ein halbes Jahr braucht man, um bei Pseudoverhandlungen angeblich streitig auszuhandeln, wer welche politische Trophäe und welchen Ministerposten an Land zieht. In der Arbeitswelt heißt ein solches Jahr ein „sabbatical“, in der Aussteigerszene ein „Selbstfindungsjahr“.

Das Gute daran ist der Beweis, dass das Untertanen-Deutschland auch anarchisch ganz gut funktioniert , also eigentlich keine Regierung braucht – allenfalls um die Plätze in den Fliegern der Flugbereitschaft im Shuttle zwischen Berlin und Brüssel zu besetzen. Im übrigen haben wir ja noch Brüssel, das mittlerweile Dreiviertel aller Rechtsvorschriften vorgibt.

Und alle machen mit. Der Bundesrat ist in einen Dornröschenschlaf verfallen, weil er erst des Wachkusses einer neuen Bundesregierung durch neue Gesetzesvorlagen bedarf. Eine „geschäftsführende“ Regierung inklusive Ministern aus der Neo-Opposition wurstelt vor sich hin. Die Opposition weiß gar nicht, gegen was sie opponieren und wem sie „auf die Fresse hauen“ (Oppositionsführerin in spe Nahles) soll. Also beschäftigt man sich mit sich selbst und macht auf Selbsterfahrungsgruppen in Stuhlkreisen.

So schön ist es nirgendwo!
maybrit illner: Neue Heimat Jamaika
Die Herren Trump, Putin und Macron tangiert das alles nur peripher. Griechenland hat weiter seine Etatprobleme; die Energiekosten steigen rasant, und Zigtausende an Haushalten bekommen den Strom abgeschaltet, weil sie ihn nicht mehr zahlen können; die Bundeswehr dämmert technisch ihrer Einmottung entgegen; die Flüchtlingszahlen bzw. Familiennachzüge nehmen zu. Der deutsche Michel freut sich angeblich trotzdem zu 60 Prozent auf „Jamaika“. Aber der Michel hat wohl vergessen, dass nicht alles so läuft, wie Jamaikas Vorzeigestück Usan Bolt: Und auch der ist ja langsamer geworden.

Wer beendet dieses Wachkoma in Deutschland? In der CDU niemand, denn alles, was diese vormalige Volkspartei zu bieten hat, sind ein paar junge Milde, die mal ein besorgtes Interview geben dürfen. Der angeblich vor Kraft strotzende Linder (FDP) könnte es. Er könnte in die Zeitgeschichte eingehen wie einst 1960 Walter Scheel, nicht indem er sich mit den Sozis ins Bett legt, sondern indem er für einen Kanzlerwechsel sorgt. Motto: Nur ohne Merkel Jamaika! Und Seehofer (CSU) könnte es, wenn auch nicht auf der Stelle: Er könnte, was dem Ehrentitel eines bayerischen “Hundlings“ gerecht würde, „Jamaika“ als Minderheitsregierung dulden, aber nicht mitmachen und die „Schwampel“ nach einem Jahr, nach der bayerischen Landtagswahl, für Neuwahlen im Bund platzen lassen. Der Platz neben „FJS“ in den Annalen bayerischer Geschichte wäre ihm gewiss. Und eine Verlängerung seines Jobs als Parteivorsitzender auch. Und dann doch die Gretchenfrage: Braucht Deutschland überhaupt eine Regierung? Jedenfalls ist keine Regierung oft besser als eine Regierung, in der sich alle Ex-Gegner nur noch wie in Blockparteien liebhaben.

Zurück zum Wachkoma: Die Parallelen und Unterschiede zwischen Politik und Medizin sind klar. In beiden Fällen wirkt der Patient präsent, wenn auch nur körperlich (mal im Bett, mal beim Fotoshooting auf einem Balkon). In beiden Fällen gibt man die Hoffnung auf ein Aufwachen nicht auf. Aber in der Medikation unterscheiden sich beide. In der Medizin hilft kein Weckruf, sondern nur Geduld. In der Politik müsste allerdings das Geduldreservoire des Volkes erschöpft sein. Hier würde ein Weckruf qua Neuwahlen helfen, vor allem wenn die Medien den Weckruf mitmachten. Aber die sind ja mit ihrem servil-staatstragenden Verständnis offenbar selbst im Wachkoma.


Josef Kraus war Oberstudiendirektor, Präsident des deutschen Lehrerverbands, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und als „Titan der Bildungspolitik“ bezeichnet. Er hat Bestseller zu Bildungsthemen verfasst und sein jüngstes Werk Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt erhalten Sie in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop.