Tichys Einblick
Wirklichkeit als Posse

Der Mangel an Desinfektionsmitteln oder: Wie Behörden einen Mittelständler ausbremsen

Eine Real-Posse in fünf Akten zeigt, wie ein deutscher Freistaat den Mangel an Desinfektionsmitteln nicht nur unnötig verlängert, sondern auch noch einen mittelständischen Produzenten erfolgreich ausgebremst hat - zu Gunsten eines großen Unternehmens.

Handelnde: Krankenhäuser, Spitzen einer Kommune und einer Landesregierung, Bürokraten, ein spezialisierter Familienbetrieb N.N.

Ort der Handlung: Eine Kommune in einem deutschen Freistaat. Es könnte sich aber in jedem deutschen Land und in jeder Region Deutschlands so abgespielt haben.

Vorspiel:

Im Januar 2020 wird „Corona“ bekannt; es ist mit einer Pandemie zu rechnen. Zu diesem Zeitpunkt verweilt das Robert-Koch-Institut (RKI) noch im „standby“-Modus. Man hielt es trotz eines Situationsberichtes der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht für nötig, Bundes- und Ländergesundheitsämter auf die drohende Gefahr hinzuweisen. Wäre dies erfolgt, dann wäre es die Pflicht von Bund und Ländern gewesen, vorausschauend zum Beispiel zu prüfen,

  • welche Unternehmen Desinfektionsmittel herstellen und die entsprechende Produktion gegebenenfalls ausweiten können;
  • ob es Engpässe an Alkohol, Flaschen oder ähnlichem gibt; 
  • ob die Versorgung der Desinfektionsmittelhersteller mit den notwendigen Substanzen von staatlicher Seite sichergestellt werden und ob gegebenenfalls den Zulieferern Prioritäten auferlegt werden sollen;
  • ob die Bevorratung mit Schutzkleidung und Atemschutzmasken ausreicht oder welcher Bedarf sich ergeben wird. 

Das Bundesgesundheitsministerium beziehungsweise die entsprechenden Länderministerien wussten aber bis Ende März nichts über den tatsächlichen Bedarf. Reagiert haben sie erst, als Ärzte und Krankenhäuser Sturm liefen. 

Akt I:

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Tatsächlich gibt es Engpässe in der Versorgung von Kliniken, Arztpraxen, Apotheken und Privathaushalten mit Desinfektionsmitteln. Allein eine mittelgroße Vor-Ort-Klinik braucht pro Tag rund 100 Liter Desinfektionsmittel. Die Vorräte werden knapp. Der einschlägig erfahrene und leistungsfähige Mittelständler N.N. teilt seinem Landratsamt und seinem Freistaat am 23. März mit, dass er bei der Herstellung von Desinfektionsmitteln helfen könne. Zugleich teilt er dem zuständigen Wirtschaftsministerium mit, dass die Vorräte an Alkohol zur Neige gehen. Die Frage des Mittelständlers, woher man Bio-Ethanol beziehen könnte, bleibt unbeantwortet. Am 26. März kümmert sich der Landrat um die Angelegenheit. Am 27. März ruft der Wirtschaftsminister persönlich bei der Firma an, erstmals wird über die Versorgung mit Bio-Ethanol gesprochen. 

Akt II:

Ein erneutes Telefonat mit dem Landeswirtschaftsminister am 30. März bringt keine Aufklärung. Die Firma sagt zu, auf eigenes Risiko leere Kanister zu beschaffen, um gegebenenfalls sofort liefern zu können. Es erfolgt Kontaktaufnahme mit einem mittlerweile genannten Bioethanol-Lieferanten. Die Firma teilt dem Wirtschaftsministerium ein konkretes Lieferangebot mit.

Akt III:

Am selben 30. März erfährt die Firma aus der Presse, dass nunmehr die Fa. Sonax sehr groß in das Desinfektionsmittelgeschäft eingestiegen ist. Der Mittelständler N.N. bemüht sich gleichwohl um die Lieferung von Bioethanol, klärt Zollmodalitäten usw.

Akt IV:

Am 2. April wird dem Mittelständler vom Lieferanten mitgeteilt, dass er die ehemals zugesagte 24-Tonnen- und dann vom Lieferanten auf 10 Tonnen reduzierte Isopropyl-Alkohol-Lieferung gar nicht bekommen wird.

Akt V:

Am 4. April nimmt der Mittelständler Kontakt mit dem Landkreis, d.h. dem Krankenhausträger, auf, um Liefermodalitäten des in Aussicht gestellten Auftrages von Desinfektionsmittel in 5-Liter-Kanistern zu erörtern. Rückmeldung des Landratsamtes: Nicht produzieren, da es von Seiten des Ministeriums noch keine Bestellung und also kein OK gibt.

Epilog zum Thema „Zweierlei Maß“

Die Firma N.N. bekommt kein Isopropylalkohol in pharmazeutischer Qualität geliefert, kann somit nicht einmal ihre Stammkunden beliefern. Es fließt offensichtlich in andere Länder. Großfirmen, die Autopflege- und Rostschutzmittel herstellen (Sonax und Caramba) haben aufgrund des warmen Winters große Vorräte an technischem Isopropylalkohol und wollen diesen losbringen. Und die Hersteller von Bioethanol bringen ihre Ware nicht mehr – wie bisher – als Ökozusatz im Benzin unter, weil der Spritverbrauch eingebrochen ist. Diese technische Ware wird nun vergoldet und findet ihren Weg bis in die Operationssäle. Dem erwähnten Mittelständler hätte man dafür zu „Friedenszeiten“ die Herstellungserlaubnis entzogen und die verantwortlichen Angestellten empfindlich gestraft. Die Firma N.N. hat inzwischen von hochoffizieller Stelle einen kleinen Auftrag erhalten – als Brosamen vom Tische des Herrn. Der Rabenanteil wird von anderen in Industriebottichen ohne jegliche Einhaltung pharmazeutischer Vorschriften gemixt. Skandalös vor allem aber ist: Die Firma N.N. wird bei Kontrollen der Aufsichtsbehörde pingelig gegängelt, wenn es um mikrobiologische Reinheit, Sterilfiltration, Reinraumabfüllung, Chargenrückverfolgung und stapelweise Dokumentation geht. Das ist sachlich und fachlich ohne Einschränkungen vernünftig. Aber bei anderen, etwa Herstellern von Autopflegemitteln und Rostschutzmitteln, ist das kein Thema. Die können munter für Kliniken, OP-Säle und Pflegeheime produzieren. 

Und die Moral von der Geschicht‘?

Geltendes Recht gilt eben manchmal nicht!

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