Tichys Einblick
Neues desaströses Attest

Zwischen einem Viertel und einem Drittel der Neuntklässler in Deutsch unterhalb der Mindeststandards

Der neue IQB-Bildungstrend für Neuntklässler zeigt: 33 Prozent bleiben beim Lesen unter den Mindestanforderungen, 34 Prozent im Zuhören und 22 Prozent in der Orthografie. Trost: Im Fach Englisch werden die Schüler etwas besser. Eine Problemgruppe mit 38 Prozent Anteil bilden dabei Schüler mit Migrationshintergrund.

IMAGO / Jochen Tack

Der freie Fall der „Bildungsnation“ setzt sich fort. Unter den Neuntklässlern gibt es immer mehr, die nicht sinnentnehmend lesen, zuhören und nicht richtig rechtschreiben können. Und: Zugleich sind die Defizite je nach Bundesland sehr unterschiedlich ausgeprägt. Zwar weist der Trend in Lesen, Zuhören und Orthografie in allen Ländern nach unten, in Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen aber besonders stark. Verbesserungen im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt verzeichnen Bayern und Sachsen, und Hamburg holte auf. Problemgruppen mit wachsendem Anteil sind die Schüler mit Migrationshintergrund. Mit anderen Worten: Ein erheblicher Teil der Bildungsprobleme ist importiert.

Die Katastrophenmeldungen über die „Bildungsnation“ reißen also nicht ab. Und zwar seit rund zwanzig Jahren. Egal ob die Tests Pisa (Programme for International Student Assessment), Iglu (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung), Vera (VERgleichsArbeiten) oder IQB-Bildungstrend (IQB = Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) heißen. Und egal, ob es um Grundschüler oder Neuntklässler geht. Offiziell heißt es: Eine verstärkte Zuwanderung, Lehrermangel und zuletzt die pandemiebedingten Schließungen seien dafür verantwortlich. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn: Die Anforderungen wurden heruntergefahren, die Schüler wurden trotzdem mit gefällig guten Noten belohnt, und das Abitur wurde zur Discounterware. Warum also anstrengen?

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Nun also hat das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) an der Berliner Humboldt-Uni am Freitag, 13. Oktober, zum dritten Mal nach 2009 und 2015 ihren Bildungstrend für Neuntklässler vorgelegt. Und zwar für die Fächer Deutsch und die erste Fremdsprache, in der Regel also Englisch, bei einem geringeren Schüleranteil Französisch. Die Testerhebungen hatten zwischen April und Juli 2022 stattgefunden. Es waren im Fach Deutsch 32.990 Schüler aus 1.610 Schulen aller 16 Ländern beteiligt. Im Fach Englisch umfasste die Stichprobe 31.159 Schüler aus 1.542 Schulen. In den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz sowie dem Saarland wurden darüber hinaus im Fach Französisch insgesamt 2.489 Schülern aus 142 Schulen getestet.

Das katastrophale Hauptergebnis: Der Anteil der Neuntklässler, die im Fach Deutsch die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss (MSA) verfehlen, ist seit 2015 stark angestiegen: 33 Prozent bleiben beim Lesen unter den Mindestanforderungen, im Zuhören sind es 34 Prozent und in der Orthografie 22 Prozent. Trost: Im Fach Englisch werden die Schüler etwas besser. Der Anteil der Schüler, die mindestens die Regelstandards für den Mittleren Schulabschluss erreichen, hat sich zwischen den Jahren 2015 und 2022 um elf Prozentpunkte im Leseverstehen und um gut zehn Prozentpunkte im Hörverstehen erhöht. Letzteres könnte damit zu tun haben, dass die Heranwachsenden häufiger digitale Medien nutzen und dies vermutlich häufig in englischer Sprache stattfinde.

Wir geben nachfolgend die wichtigsten Einzelergebnisse wieder, wie sie von der Kultusministerkonferenz (KMK) zusammengefasst wurden.

Detailergebnisse im Fach Deutsch
  • Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen 49 Prozent der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben, den Regelstandard im Lesen für diesen Schulabschluss. Im Zuhören sind es 53 Prozent und in Orthografie 65 Prozent. Das bedeutet gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 im Lesen einen signifikanten Rückgang um 9 Prozentpunkte, im Zuhören um 19 Prozentpunkte und in Orthografie um 12 Prozentpunkte.
  • Beim Erreichen der Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA) ergibt sich Folgendes: Im Fach Deutsch verfehlen etwa 15 Prozent der Neuntklässler die Mindeststandards für den ESA im Bereich Lesen, fast 18 Prozent im Bereich Zuhören und rund 8 Prozent im Bereich Orthografie. Im Lesen bedeutet das gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 einen signifikanten Anstieg von 6 Prozentpunkten, im Zuhören von 10 Prozentpunkten und in Orthografie von 4 Prozentpunkten.
  • Die Mindeststandards für den MSA werden in der Gesamtgruppe aller Neuntklässler im Fach Deutsch im Lesen von 33 Prozent der Jugendlichen nicht erreicht. Im Zuhören sind es 34 Prozent, in Orthografie sind es 22 Prozent. Im Lesen ergibt sich damit gegenüber 2015 ein signifikanter Anstieg von 9 Prozentpunkten, im Zuhören von 16 Prozentpunkten und in Orthografie wiederum von 9 Prozentpunkten. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Schüler in der neunten Klasse mehr als ein Jahr vor dem MSA-Abschluss getestet wurden und insofern diese Leistungen zum Testzeitpunkt auch noch nicht erbringen konnten.
  • Setzt man die Kompetenzwerte des Vergleichsjahres 2015 jeweils auf einen Mittelwert von 500 Punkten, verlieren die Neuntklässler im Jahr 2022 gegenüber 2015 bundesweit betrachtet im Fach Deutsch im Lesen im Schnitt 25 Kompetenzpunkte, im Zuhören 44 Punkte und in Orthografie 31 Punkte. (TE-Anmerkung: 40 bis 50 Kompetenzpunkte entsprechen in etwa einem Schuljahr!)
  • Die Ergebnisse im Fach Deutsch variieren zwischen den Ländern teilweise erheblich. So liegt beispielsweise der Anteil der Neuntklässler, die im Fach Deutsch im Lesen den Mindeststandard für den ESA verfehlen, je nach Land bei 8 bis 24 Prozent.
Detailergebnisse im Fach Englisch
  • In Englisch erreichen oder übertreffen 60 Prozent der Neuntklässler, die den MSA anstreben, die Regelstandards im Bereich Leseverstehen. Das sind 11 Prozentpunkte mehr als im Vergleichsjahr 2015.
  • In Englisch erreichen beim Leseverstehen 24 Prozent aller Neuntklässler noch nicht den Mindeststandard für den MSA. Beim Hörverstehen sind es 14 Prozent der Jugendlichen. Das ist ein Rückgang von jeweils 3 Prozentpunkten gegenüber 2015.
  • Betrachtet man die Kompetenzmittelwerte in Englisch, konnten bundesweit im Mittel 22 Kompetenzpunkte im Leseverstehen und 23 Punkte im Hörverstehen dazugewonnen werden.
„Zuwanderungsbezogene Disparitäten“
  • Im Jahr 2022 weisen insgesamt 38 Prozent der Neuntklässler in Deutschland einen Zuwanderungshintergrund auf, wobei dieser Anteil deutlich zwischen den einzelnen Ländern schwankt (von rund 12 Prozent bis über 57 Prozent). Das ist ein Plus von 9 Prozentpunkten gegenüber 2015 und ein Plus von 11 Prozentpunkten gegenüber 2009. (TE-Anmerkung: Der Migrantenanteil hat sich also vor allem nach 2015 massiv erhöht. Stichwort: Grenzöffnung!)
  • Der Anteil der Familien, in denen nie oder selten Deutsch gesprochen wird, ist deutlich gestiegen: auf 32 Prozent im Jahr 2022. Diese Entwicklung hat sich stark beschleunigt; während der Anteil zwischen 2009 und 2015 nur um einen Prozentpunkt gewachsen war, nahm er zwischen 2015 und 2022 um 11 Prozentpunkte zu. Jugendliche, die in ihren Familien nur manchmal oder nie Deutsch sprechen, zeigen im Schnitt ein geringeres Kompetenzniveau im Lesen und Zuhören als Jugendliche, die in ihren Familien immer Deutsch sprechen.
  • Sowohl im Fach Deutsch als auch im Fach Englisch zeigen sich für Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund signifikante Rückstände. Diese fallen im Fach Deutsch am stärksten aus. Die Ausprägung dieses Negativtrends unterscheidet sich zwischen den einzelnen Ländern erheblich.
  • Insbesondere unter den selbst zugewanderten Jugendlichen (erste Generation) sind die Kompetenzstände im Fach Deutsch gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 deutlich zurückgegangen ( minus 46 Kompetenzpunkte im Lesen, minus 62 Punkte im Zuhören, minus 53 Punkte in Orthografie).