Tichys Einblick
MASSE STATT KLASSE

Bildungsnation im freien Fall

Immer mehr Schüler gehen aufs Gymnasium. Gleichzeitig werden die Notendurchschnitte immer besser und die Durchfallerquoten immer niedriger. Wie passt das zusammen? Gar nicht, denn die Kinder sind nicht schlauer geworden, sondern die Anforderungen wurden abgesenkt. Ein Desaster.

imago Images/Michael Weber

Anfang des 19. Jahrhunderts galt Deutschland als „Land der Dichter und Denker“. Dann wurde das Land mit der Reichsgründung 1871 auch ein Land der Naturwissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Nationalökonomen, Psychologen, Pädagogen und Nobelpreisträger (siehe auch „Tichys Einblick“ 03/2021).

Heute dümpelt die vormalige Bildungsnation vor sich hin. Aber man will es nicht wissen und lügt sich in die Tasche. Anstelle ehrlicher Bilanzen liefert man planwirtschaftlich immer höhere Abiturienten-, Studenten- und Akademikerquoten. Zugleich werden die Noten immer besser: In allen deutschen Ländern hat sich die Zahl der Einserzeugnisse binnen eines Jahrzehnts mindestens verdoppelt.

Die Inflation guter Noten steht allerdings in eigenartigem Widerspruch zu den mittelprächtigen „Pisa“-Ergebnissen deutscher Schüler. Das Gymnasium scheint zur neuen „Haupt“-Schule geworden zu sein. Sitzenbleiben? Das gibt es kaum noch, denn man schiebt die Schüler einfach durch. Das Land Berlin rühmt sich, dass es mit 1,1 Prozent die bundesweit niedrigste Quote an „Ehrenrunden“ hat. Bundesweit lag die „Durchfaller“-Quote zuletzt bei 2,3 Prozent, vor 20 Jahren waren es noch 2,8 Prozent.

Zugleich werden Missstände schön- geredet: Aus Schulschwänzern werden Schuldistanzierte, aus faulen Schülern demotivierte, aus verhaltensgestörten verhaltensoriginelle, aus dummen einseitig begabte oder praktisch bildbare. Realitäten werden einfach geleugnet und für nicht existent erklärt.

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Schieflagen über Schieflagen sind es, die die vormalige Bildungsnation heute kennzeichnen. Im Jahr 1996 gab es in Deutschland 267.000 Studienanfänger, 2016 waren es doppelt so viele. Seit 2014 haben wir insgesamt mehr Studienanfänger als junge Leute, die eine berufliche Bildung anfangen. Im Jahr 2000 hatten wir – damals eigentlich schon zu viel – 1,8 Millionen Studenten bei 37.794 hauptamtlichen Professoren an 323 Hochschulen aller Kategorien. 2020 waren es an 424 Hochschulen 2,9 Millionen Studenten bei 48.547 Professoren.

Immer mehr Studierberechtigte und immer weniger Studierbefähigte, immer mehr Professoren mit Glasperlenfächern bevölkern die Hochschulen. In den „harten“ Fächern müssen die Hochschulen Liftkurse für Studienanfänger einrichten, weil ihnen die Hochschulen erst einmal „Basics“, zum Beispiel in Mathematik, vermitteln müssen, die frühere Studentengenerationen aus der Schule mitbrachten.

Gleichwohl setzt sich die Noteninflation der Schulen vor allem in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften an den Universitäten fort. Die Zahl der Promotionen, zuletzt rund 30 000 pro Jahr, zudem mit hohen Anteilen von „summa“ und „magna“, nimmt zu. Die Zertifikate werden wie ungedeckte Schecks ausgegeben. Große Teile der Elternschaft und der „woken“ jungen Leute wollen es so. Politik und Hochschulen machen populistisch mit.

Ebenso bezeichnend: Den 330 Berufsbildungsordnungen stehen 17.000 Studienordnungen gegenüber. Berufliche Bildung „Qualified in Germany“ war mal ein herausragendes Gütemerkmal der deutschen Bildungslandschaft. Aber wer geht dort noch hin, wenn er voraussetzungslos „auf Gymnasium machen kann“, wenn ein „Bachelor“ mehr Image bringt.

Die Folge ist verheerend. Der beruflichen Bildung fehlt es quantitativ und qualitativ an Bewerbern. Im Jahr 2000 gab es 1,7 Millionen „Azubis“. Im Jahr 2020 nur noch 1,3 Millionen. Ausbildungsbetriebe klagen über die mangelnde Ausbildungsreife junger Leute – und nicht selten über mangelnde Ausbildungswilligkeit. 60.000 Ausbildungsplätze blieben 2020 unbesetzt.

Eine Neubesinnung, die auch eine Rückbesinnung sein kann, ist dringend geboten. Wir brauchen wieder Schulen, die Schulen, und Universitäten, die Universitäten sind. Eine Umkehr des Prinzips „Masse statt Klasse“ ist nur in Sicht, wenn die bildungspolitisch Allgewaltigen ihre Gefälligkeits- und Erleichterungspolitik ablegen und sich auf ein paar Grundsätze besinnen.

Rückbesinnung erforderlich

Georg Pichts Diktum aus dem Jahr 1963 ist falsch, wenn er damals meinte: „Wir brauchen mehr Abiturienten, auch wenn wir sie nicht brauchen.“ Denn wenn der Mensch erst mit dem Abitur beginnt, verspielen wir die Vorzüge unseres beruflichen Bildungswesens. Die immer wieder bemühten Quoten an Studierberechtigten und Akademikern sind international nicht vergleichbar. Vielmehr sollte zu denken geben, dass Länder mit höchsten Abiturientenquo- ten oft zugleich höchste Quoten arbeitsloser Jugendlicher haben.

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Man muss sich auch wieder darauf besinnen, dass Bildung nicht ohne Anstrengung zu haben ist. Die heutige Spaßpädagogik schadet unseren jungen Leuten. Wir müssen ihnen vielmehr wieder mehr zutrauen und auch mehr zumuten. Progressive Pädagogen und Bildungspolitiker tun indes so, als gingen Bildung und Lernen ohne Anstrengung. In der Folge sind die Ansprüche heruntergefahren geworden: Der mutter- und der fremdsprachliche Wortschatz wurden drastisch gekürzt, ein Auswendiglernen von Gedichten findet fast nicht mehr statt, das Einprägen von historischen oder geografischen Namen und Daten gilt als vorgestrig, Grundschüler dürfen gegen jede Orthografieregel „phonetisch“ schreiben.

Dass diese Erleichterungsattitüde falsch ist, wussten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike: Leistung und Erfolg, ja das Erleben von Glück, setzen Bedürfnis- und Triebaufschub voraus. Wer das Prinzip Leistung bereits von Jugend an untergräbt, setzt eines der revolutionärsten demokratischen Prinzipien außer Kraft. In unfreien Gesellschaften sind Geldbeutel, Geburtsadel, Gesinnung, Geschlecht oder dergleichen Allokationskriterien Kriterien zur Positionierung eines Menschen in der Gesellschaft. Freie Gesellschaften haben an deren Stelle das Kriterium Leistung gesetzt. Ein revolutionärer Fortschritt und die große Chance zur Emanzipation für jeden!

Wir brauchen drittens Bildungsvielfalt statt Einfalt. Die Einheitsschule in Deutschland ist gescheitert. Als Gesamtschule hat sie Jahrzehnte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich und schnitt in allen Studien schlecht ab. Deshalb gibt es keinen Grund, Gesamtschulen im Gewande der Gemeinschaftsschule neu aufzulegen. Die Behauptung, durch die Gesamtschule könne ein sozialer Ausgleich stattfinden, ist ebenfalls falsch. Langzeitstudien haben nachgewiesen: Der Besuch einer Gesamtschule schafft keineswegs bessere soziale Aufstiegsmöglichkeiten.

Außerdem erzielt eine von Gleichmacherei geprägte Bildungspolitik vermeintliche Gleichheit allenfalls durch die Absenkung des Anspruchsniveaus.

Lehrpläne statt Leerpläne

Schließlich brauchen wir Lehrpläne statt Leerpläne. Die vorgeblich progressive Pädagogik verzichtet seit zwei Generationen immer mehr darauf, von jungen Leuten konkretes Wissen einzufordern. Es gebe ja „download knowledge“. Es gibt aber keine Bildung ohne Inhalte. Nur „kanonisches“ Wissen bietet Verlässlichkeit, nur solches Wissen ist eine solide Kommunikationsgrundlage. Währenddessen greift – um eine Volksetymologie zu bemühen – „Wissen unter aller Kanone“ um sich. Es gilt: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ (Marie von Ebner-Eschenbach).

Einer, der nichts weiß und alles glaubt, ist indes kein mündiger Staatsbürger. Er wäre das Lieblingsobjekt eines Diktators oder Demagogen. Orwells Big Brother mit seinem Leitspruch „Unwissenheit ist Stärke“ könnte sich nichts mehr wünschen als Menschen ohne konkretes Wissen.

Breites Wissen ist auch die unerlässliche Voraussetzung für die Fähigkeit zur Zusammenschau und damit für Kreativität. Thomas Alva Edison sagte einmal: Zehn Prozent von Kreativität sind Inspiration, 90 Prozent sind Transpiration. Wer also innovativ sein möchte, der möge erst einmal viel, viel wissen.


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