Tichys Einblick
Nur noch 1,1 Prozent Sitzenbleiber

Endlich bewiesen: Berlin ist ein Bildungswunderland

Früher pilgerte man, ehe sogar dieses Land in PISA zurückfiel, ins Bildungssuperland Finnland. Jetzt kann man nach Berlin pilgern.

imago Images/Michael Weber

Es gibt doch noch wirklich schöne Überraschungen in dem Land, das irgendwann einmal eine Bildungsnation war. Ja, Berlin ist drauf und dran, die Bildungsnation wieder zum Leben zu erwecken. Das dortige Schulsystem ist so unglaublich differenziert, individuell, fördernd, nicht-selektiv, ganzheitlich, progressiv, zukunftsorientiert, dass dort fast kein Schüler mehr sitzenbleibt.

Das hat soeben das Statistische Bundesamt mitgeteilt. Konkret: In der Bundeshauptstadt sind im Sommer 2019 nur noch rund 3.200 Jungen und Mädchen nicht in die höhere Klassenstufe versetzt worden, oder aber sie haben sich freiwillig für eine Wiederholung entschieden. Das entspricht einem Anteil von 1,1 Prozent. 2008 hatte die Quote noch bei 3,6 gelegen. Nirgendwo ist der Anteil der Sitzenbleiber an den allgemeinbildenden Schulen im bundesweiten Vergleich damit so niedrig wie in Berlin. Den höchsten Anteil an „Ehrenrundlern“ gab es in Bayern mit 3,8 Prozent, den niedrigsten eben in Berlin mit 1,1 Prozent. Bundesweit war die „Durchfaller“-Quote bei 2,3 Prozent, vor 20 Jahren waren es noch 2,8 Prozent.

Was „lernt“ uns das? Klar: Unsere Jugend, vor allem die in Berlin, wird immer klüger und fleißiger, und unsere Lehrer werden immer besser und motivierender. Also, es geht doch! Früher pilgerte man, ehe sogar dieses Land in PISA zurückfiel, ins Bildungssuperland Finnland. Jetzt kann man nach Berlin pilgern. Und spart dabei eine Menge Reisekosten und Dolmetscher. Letztere aber nur, wenn man keine Berliner Schule mit 80 oder 90 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund besucht.

Aber ernsthaft: Irgendetwas stimmt nicht. Wir kramen in jüngeren und älteren Datensätzen und Statistiken und stellen fest: In so ziemlich allen Schulleistungstests nahm Berlin in den letzten 20 Jahren einen Platz unter den drei bis vier Kellerkindern auf den Tabellen des innerdeutschen Rankings ein – zumeist mit Bremen zusammen. Und zwar

  • beim IQB-Bildungstrend 2018 für 9. Klassen im Bereich „Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen“ am Ende der 10. Klasse (IQB = Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen);
  • im VERA-Test für 3. und 8. Klassen (VERA = Vergleichsarbeiten in der Schule);
  • im IGLU-Test für 4. Klassen (IGLU = Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung).
  • Als die Auswertung des PISA-Tests noch ehrlich war und nach Bundesländern ausgewertet wurde (zuletzt 2006), wechselte sich Berlin beim Tragen der „roten Laterne“ auch regelmäßig vor allem mit Bremen ab.

Noch ein paar Details

  • Zum Beispiel erreichten beim Test VERA 2015 Berliner Achtklass-Oberschüler mit einem Anteil von 39 Prozent und Berliner Achtklass-Gesamtschüler mit einem Anteil von 25 Prozent beim Schreiben nicht den Mindeststandard.
  • Die Abschlussprüfungen etwa zum Erwerb des Mittleren Schulabschlusses nach der 10. Klasse befanden sich 2016 zum Teil auf dem Niveau der 8. oder der 7. Klasse, zum Teil sogar auf dem Niveau der Grundschule. Eine Mathematikaufgabe beispielsweise lautete: „Drei Ziffern sind gegeben: 2, 3, 6. Welche ist die größte dreistellige Zahl, die aus diesen Ziffern gebildet werden kann?“
  • Oder nehmen wir aus der 2016er Mathematikprüfung für den mittleren Schulabschluss in Berlin und Brandenburg eine andere Teilaufgabe: „Im Filmpark Babelsberg wird in jedem Jahr die Anzahl der Besucher gezählt. Geben Sie ein Jahr an, in dem die Besucherzahl niedriger als 300.000 war.“ Flankiert wird die Aufgabenstellung von einem Säulendiagramm für die Jahre 2007 bis 2015. Der Prüfling musste nur die kürzeste Säule aussuchen und die darunter stehende Jahreszahl abschreiben. Er hat damit die „Allgemeine Kompetenz K3“ (Mathematisch Modellieren) nachgewiesen. Die FAZ vom 11. August 2016 schreibt dazu: Die Schulmathematik sei zur „reinen Vortäuschung des Rechnens geworden.“
  • In Berlin hat sich die Zahl der 1,0-Abiturzeugnisse von 17 im Jahr 2002 auf 234 im Jahr 2012 erhöht (das ist das Vierzehnfache).
    All das „zahlt“ sich jetzt aus – in Form von Sitzenbleiberquoten, die gegen NULL gehen.

Aber: Man lügt sich damit in die Tasche, und man händigt den jungen Leuten Zeugnisse aus, die ungedeckte Schecks und für die „Abnehmer“ der jungen Leute (Berufsschulen, Hochschulen) ohne Wert sind.

Womit wieder einmal bewiesen wäre: Quote und Qualität verhalten sich reziprok. Ob man das in Berlin versteht? Macht nix! Früher meinte ein Berliner „Regierender“ mal: „Berlin – arm, aber sexy!“. Heute müsste er hinzufügen: „Berlin – doof aber sexy!“

Aber Bosheit beiseite: Die anderen deutschen Länder werden Berlin nacheifern. Wetten, auch Söder wird mitmachen! In Zeiten von „Corona“ darf man den Kinderchen doch bitte nicht zu viel abverlangen.

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