Tichys Einblick
Oft verteufelt – und zeitgemäßer denn je

15. Oktober 1844 – Nietzsche zum 175. Geburtstag

Es lohnt, zu seinem 175. Geburtstag Nietzsche zu lesen, zum Beispiel wenigstens (wieder einmal?) ein paar seiner Aphorismen. Es sind oft topaktuelle Zeitdiagnosen auch für das Jahr 2019.

Nietzsche – ist das nicht der mit den zu Kalauern verkommenen Sprüchen? Gelobt sei, was hart macht ... Was uns nicht umbringt, macht uns stärker... Gehst du zu Frauen, vergiss die Peitsche nicht! Allein die Geschichte mit der Peitsche hat Nietzsche bei vielen (w/m/d) Sympathien gekostet, wiewohl diese Aufforderung von einem alten Weiblein (sic!) ausgesprochen wird, wenn sie Zarathustra auffordert: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“

Mehr wissen die allermeisten, denen der Name Nietzsche überhaupt schon einmal begegnet ist, nicht. Deshalb ein wenig Nachhilfe: Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken geboren; das ist zwanzig Kilometer vor den Toren Leipzigs und vier Kilometer vom Ort entfernt, an dem der Schwedenkönig Gustav II. Adolf am 16. November 1632 bei Lützen in einer Schlacht gegen das Heer des katholischen Wallenstein fiel. Der auch lyrisch und musikalisch hochbegabte Pastorensohn Friedrich Nietzsche schlug zunächst eine bodenständig unauffällige Richtung ein. Mit 24 Jahren bereits wurde er – dies freilich nur für zehn Jahre – außerordentlicher Professor für klassische Philologie in Basel. Von 1879 bis 1889 dann war er freischaffender Philosoph auf Wanderschaft zwischen Deutschland, der Schweiz und Italien, immer wieder gezeichnet von heftigen Krankheitsschüben. Im Januar 1889 fiel er in Turin in geistige Umnachtung. Mutter und Schwester pflegten ihn bis zu seinem Tod am 25. August 1900 in Weimar. Begraben ist er auf dem Friedhof neben seinem Geburtshaus in Röcken.

Friedrich Nietzsche ist einer der zeitlos großen deutschen Denker. Den Zeitgeist-Surfern heute hätte er viel zu sagen, aber sie würden ihn nicht mögen. Die real amtierenden Kirchenfürsten würde Nietzsche intellektuell und verbal zerlegen, ebenso die politische, die mediale Elite und das politisch-ökologisch-korrekt rundgelutschte Untertanenvolk, das nach Ersatzreligionen und Relotius-Reportagen giert und in dem Flüsterer und Denunzianten noch die Mutigsten sind.

Nietzsche würde heute in dieser unendlich ungeistigen Zeit schnell abgehakt. Verteufelt würde er von den im doppelten Gesinnungsnetz wohlbehüteten Moralakrobaten. Wahrscheinlich wegen angeblicher Nähe zum „Rechtspopulismus”. Aber wie damals würde er sich einer Kategorisierung entziehen. Denn das Widersprüchliche, schwankend zwischen dem rational Apollinischen und dem rauschhaft Dionysischen, das Diametrale war Kernbestand des Werkes, auch der Persönlichkeit Nietzsches.

Vor allem Nietzsches Zarathustra hat sich eingeprägt. Das Werk erschien zwischen 1883 und 1885. Nietzsche selbst sieht darin die „Bibel der Zukunft“. Tatsächlich kann man den Zarathustra als eine Art Anti-Bibel verstehen. Die oft parodierenden Anspielungen auf das Alte und das Neue Testament sowie der phasenweise ausgeprägte Verkündigungs- und Predigtstil weisen darauf hin. Ferner – auch das sind Anspielungen auf die Bibel – kommen vor: ein Abendmahl, Jünger, eine Wüste, das Fasten, ein Ölberg. Von daher verwundert es nicht, wenn Nietzsche den Zarathustra selbst als fünftes Evangelium bezeichnet. Man könnte nach Nietzsche heute meinen, die Evangelien (griech. euaggelion = frohe Botschaft) seien Dysangelien (Unglücksbotschaften). Siehe die CO2-Apokalypsen! Aber damit könnte Nietzsche nichts anfangen. Und die 1,0-Abitur-Vollkasko-Verwöhnten wurden die Anspielungen des höchst bibelkundigen Anti-Christ-Nietzsche nicht einmal im entferntesten erahnen.

Eines der Kernthemen Nietzsches ist die Lehre vom Übermenschen. Damit projektiert Nietzsche die Überwindung des verweichlichten „letzten Menschen“, der als Anti-Übermensch ein Leben ohne (CO2?)-Risiko wünscht. Nietzsches Philosophie ist nicht nur hier eine Philosophie des Anti-Egalitarismus. Im 4. Teil des Zarathustra finden wir diesen Egalitarismus personifiziert: „Der Pöbel aber blinzelt‚ wir sind alle gleich!‘“ Das passt zu keiner Variante von Kollektivismus, weshalb auch die Nationalsozialisten es bald aufgegeben haben, Nietzsche für sich zu instrumentalisieren, auch wenn das Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (1846 – 1935) gerne so gehabt hätte. Immerhin traf sie sich mit Hitler. Das heißt: Auch die in ihren Reihen dicht geschlossenen Friday-für-Future- und Extinction-Rebellion-Aktivist*Innen können Nietzsche nicht in Anspruch nehmen.

„Macht“ ist für Nietzsche etwas anderes – keineswegs die Macht eines Straßenpöbels. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht – davon hat man mal gehört. Vermutlich hat Nietzsche tatsächlich ein Werk dieses Titels geplant (der Untertitel sollte „Umwerthung aller Werthe“ lauten), dies wegen seiner Erkrankung aber nicht zu Ende gebracht. Von diesem Plan ist letztlich nur der Antichrist als einer von ursprünglich vier Teilen fertig geworden. Aber auch an vielen anderen Stellen geht es Nietzsche um den Willen eines Über-sich-hinaus-Wachsens des Menschen. Vor allem will Nietzsche die Umkehrung der christlich-jüdischen Mitleids- und Nächstenliebe-Moral, die er verantwortlich macht für die Dekadenz der Moderne – und vor allem Europas und des Westens insgesamt. Ob das die obersten deutschen Kirchenfürsten verstehen?

Der Kontrast zum Übermenschen ist für Nietzsche außer dem verweichlichten Menschen vor allem der Staat mit seinen Schleppenträgern. Im Zarathustra-Abschnitt Von neuen Götzen zerpflückt er den Staat: „Staat heisst das kälteste aller kalten Ungeheuer …  der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt … Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung … Seht sie klettern, diese geschwinden Affen! … Hin zum Throne wollen sie Alle …Oft sitzt der Schlamm auf dem Thron – und oft auch der Thron auf dem Schlamme …“

Noch zu Nietzsches Lebzeiten wird vor allem Nietzsches Zarathustra zum Kultbuch. Wegen seiner Umnachtung kann es Nietzsche nicht mehr erleben. Nietzsches Gesamtwerk und im besonderen sein Zarathustra beeinflussten – auch in Frankreich – nachhaltig die Philosophie (siehe Heidegger, Jaspers, Foucault, Derrida), die Psychologie (siehe Freud, Klages, Adler, Jung) und die Literatur. Rilke, von Hofmannsthal, Karl Kraus, Musil, Stefan Zweig, die Gebrüder Heinrich und Thomas Mann, Hesse, Döblin, Ernst Jünger, in Frankreich vor allem Gide und Malraux – sie alle waren von Nietzsche mitgeprägt. Gottfried Benn sagt 1950, zum 50. Todestag Nietzsches: „Für meine Generation war er das Erdbeben der Epoche und seit Luther das größte deutsche Sprachgenie“.

Wieder andere stellen den Zarathustra als eines der „fünf titanischen Bücher“ der Weltliteratur gleichrangig neben die großen Weltromane Die Brüder Karamasoff, Krieg und Frieden, Moby Dick und Don Quijote. Jedenfalls hat der Zarathustra vielerlei Spuren hinterlassen. Bei Albert Camus etwa lebt er in dessen Essay Der Mythos des Sisyphos fort. Bei Richard Strauss findet sich Zarathustra wieder in dessen sinfonischer Dichtung des Jahres 1896 mit gleichnamigem Titel. In der dritten Symphonie von Gustav Mahler ist Zarathustra ebenfalls verarbeitet.

Im einem mittlerweile umerzogenen und ent-intellektualisierten Land, zu dem die gehören, „die schon immer hier leben, und die, die neu hinzugekommen sind“, ist aber kein Platz für solche Geistesgrößen. Dennoch lohnt es sich, und sei es zur auf dem Weg der inneren Emigration, zu seinem 175. Geburtstag Nietzsche zu lesen, zum Beispiel wenigstens (wieder einmal?) ein paar seiner Aphorismen. Es sind oft topaktuelle Zeitdiagnosen auch für das Jahr 2019.

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