Tichys Einblick
Eine Ortsbesichtigung und ein Glückwunsch

Wo die Mohrenstraße Wilhelmplatz heißen müsste

Die wahre Cancel Culture, die seit Jahrzehnten Berlin verwüstet, nimmt niemand wahr. Sie ist schuld daran, dass Berlin auch städtebaulich verkommt und sich den inoffiziellen Titel der hässlichsten Hauptstadt des Abendlands verdient.

Doppelter Brutalismus - wo die Mohrenstrasse Wilhelmplatz heissen müsste

Alle reden vom Skandal der Mohrenstraße, beziehungsweise dem Skandal der Mohrenstraßen-Umbenennung. Als ginge es dabei um irgend etwas Nennenswertes. Aber die wahre Cancel Culture, die seit Jahrzehnten Berlin verwüstet, nimmt niemand wahr. Sie ist schuld daran, dass Berlin auch städtebaulich verkommt und sich den inoffiziellen Titel der hässlichsten Hauptstadt des Abendlands verdient. Die Ursache ist unbestreitbar: Berlin ignoriert die eigene Geschichte und schändet deren Hinterlassenschaft.

I.

Der Wilhelmplatz war das politische Zentrum des alten Berlin. Witzigerweise heißt er heute Mohrenstraße, ist deren breitere Fortsetzung, dort, wo sie in die Wilhelmstraße mündet und als Platz kaum noch nicht erkennbar ist. War der Name Mohrenstraße also einmal korrekter als Wilhelmplatz? Zwischendurch hieß er auch Zietenplatz, nach dem preußischen Reitergeneral. Dort lässt sich Frau Merkel gelegentlich als biedere Hausfrau im Supermarkt fotografieren. Dort hausen ganzjährig Penner. Dort steht die brutalistische tschechische Botschaft und wetteifert mit den grauenhaftesten DDR-Platten um den Preis der hässlichsten Gebäude Berlins, und dort wartet eben auch der verschmierte Eingang zur U-Bahnstation Mohrenstraße darauf, umbenannt zu werden. Ein Ort von ästhetisch unschlagbarer Bedeutungslosigkeit.

II.

Kurzer Rückblick zum langen Niedergang: Angelegt im frühen 18. Jahrhundert mit prächtigen Stadtpalästen. Einer davon, das Palais Schulenburg, wird 1878 zu Bismarcks Reichskanzlei. Hauptschauplatz der Novemberrevolution 1918. Reichskanzler Ebert übernimmt. Am Wilhelmplatz steht das Hotel Kaiserhof, das erste Haus nicht bloß an diesem Platz, in dem dann Hitler wohnt und das der NSDAP als provisorische Parteizentrale dient. Hitler hasst die alte Reichskanzlei, wo man ihm mit Fackelzügen huldigt, verachtet die Gebäude der Kaiserzeit im Stil der Neorenaissance und lässt deshalb in der die Mohrenstraße verlängernden Voßstraße seine größenwahnsinnige nie vollendete neue Reichskanzlei errichten. Auch das Propagandaministerium Goebbels steht am Wilhelmplatz. Mit der Nazidiktatur beginnt die erste städtebauliche Verschandelung des zentralen Platzes des politischen Berlin. Aufmarschgerecht sollte er nun sein. Die Kommunisten schließen sich der Vernichtung auf ihre Weise an. Auf dem nunmehrigen Thälmannplatz nimmt das städtebauliche Elend kein Ende – auch nach dem Mauerfall nicht. Lediglich ein paar alte Bronzestatuen friderizianischer Kriegshelden – Zieten and Anhalt-Dessau („der alte Dessauer“) – werden nach der Jahrtausendwende wieder aufgestellt – wie bestellt und nicht abgeholt.

III.

Niemand wünscht sich eine Rekonstruktion des Alten. Aber doch wenigstens einen Hauch von Bewusstsein für das, was da einmal gewesen ist. Von den Schichtungen der Geschichte an diesem Platz ist nichts mehr zu erahnen oder gar zu spüren. Das ist kein Platz mehr, der irgendwelchen Ansprüchen genügte. Es ist nur ein städtebaulicher Verhau. Aber so geht Berlin fast überall mit seiner Vergangenheit um. Warum stehen die unsäglichen Platten noch? Warum ist hier nicht die die alte Reichsmitte durch erstklassige heutige Gebäude markiert. Statt dessen anderswo eine sinnlose, historisch kostümierte Betonkiste namens Stadtschloss, die das Elend nur verbrämt.

IV.

Der einzige städtebaulich wie architektonisch herausragende Neubau im wiedervereinten Berlin ist das Band des Bundes, vor allem dort, wo der Riegel der Bundestagsbauten in kühner Geste die Spree überspannt, und damit die alte Grenzlinie zwischen Ost und West. Seine Freitreppen, seine Ausblicke und immer wieder neuen Perspektiven, sein Charakter als Platz, sind modern und zeitlos zugleich. Dieser Bau spielt mit den großen Traditionen europäischer Baukunst. Sein Architekt, Stephan Braunfels, hat seither in Berlin nie wieder etwas gebaut. Weil er unbequem ist. Weil er gegen das peinliche städtebauliche Verbrechen namens Hauptstadt Berlin wettert, und nicht nur wettert, sondern mit unangenehm besseren Vorschlägen – etwa zum Schlossneubau, zum Checkpoint Charlie und gegen die künftige Kunstscheune ankämpft. Braunfels wird just heute siebzig Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch.

Anzeige