Tichys Einblick
Besserwisserei und ideologische Verbohrtheit

Wer sich empört, ist nicht von gestern

Ungebildete, Unerzogene, Unbelehrbare regieren das Land und sind auch noch stolz auf ihren von Kenntnissen und Leistungen ungetrübten Aufstieg. Aus Unbedarftheit wird gefährliche Besserwisserei und ideologische Verbohrtheit.

Bürger, die ihr Vertrauen in den Staat verlieren und die Politik der „großen Transformation“ als persönliche Bedrohung empfinden, bekommen von den Besserwissern aus Politik, Medien und Wissenschaft schnell zu hören: Sie versperrten sich dem unvermeidbaren Wandel der Welt, seien zukunftsblind und von „Veränderungserschöpfung“ befallen. Wer beklagt, wie dieses Land heruntergewirtschaftet wird, will aber nicht die Zeit zurückdrehen.

I.

Ständig muss ich mir anhören – auch von „Rechten“ –, ich steckte gedanklich in der Bonner Republik fest, im Vorgestern, hätte die Segnungen der Berliner Republik – Wiedervereinigung, Nationalstaat – noch immer nicht kapiert. Offenbar eine Alterserscheinung. Die Häme ist nicht zu überhören: Ich und andere verkalkte Veteranen klebten nur an ihrer Vergangenheit im Kuhdorf Bonn fest, gehörten also ebenfalls zu einer Art „Last Generation“, unfähig, endlich abzutreten. Zweifellos handelt es sich um eine weit verbreitete und allgemein akzeptierte Form der Altersdiskriminierung.

II.

Mit einem fortschrittsfeindlichen „früher war alles besser“ haben meine gelegentlichen Verweise auf die Bonner Republik nichts zu tun. Es war früher natürlich nicht alles besser. Aber die wandelgierigen Glaubensbekenntnisse der Gegenwärtigen haben größte Skepsis verdient. Das Wichtigste, was aus der Vergangenheit der Bundesrepublik zu lernen wäre, ist dies: Sie war ein Produkt der „Skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky, 1957). Geläutert durch Erfahrung, misstrauisch gegenüber jeglicher Ideologie, vernunftgesteuert statt moralgedopt, verantwortungsethisch mit dem Wiederaufbau befasst statt gesinnungsethisch mit der Zerstörung des Wohlstands. In der Bonner Republik wurde das Volk auch nicht mit der Nation verwechselt. Es gab, was heute von rechts bis links fast verfemt ist, einen ausgeprägten Verfassungspatriotismus. Während heute die Verfassung, zumindest ihr Geist, verletzt (Beispiel Corona, Beispiel Migration, Beispiel Wahlrecht) und nach Belieben entwertet und der Staat sich zur autoritären Obrigkeit aufwirft.

III.

Aber aus der Vergangenheit wollen die Deutschen nicht lernen, es sei denn es handelt sich um jene tausend Jahre, die nach zwölf Jahren vorbei waren. Diese elende Verkürzung des Geschichtsbilds führt zu den immer wieder gleichen Fehlern. Nach der Weltzerstörung die Weltrettung. An Größenwahn lassen sich die Deutschen schwerlich übertreffen. Deshalb wäre es wichtig, in der Bonner Republik nicht nur ein leicht zu entsorgendes, provisorisches Vorspiel der „Wiedervereinigung“ zu sehen. Auch aus den unbezweifelbaren Fehlern der Nachkriegszeit ist viel zu lernen. Aber das will die politische Kaste nicht. Die Parteien haben sich dieses Land zur Beute gemacht. Statt an der Willensbildung mitzuwirken, wie es im Grundgesetz heißt, ist dieser Staat in die Hände einer hauptberuflichen Funktionärskaste geraten. Aus dieser Fehlentwicklung lassen sich fast alle Irrtümer der gegenwärtigen Politik ableiten.

IV.

Bis hinauf an die Spitze des Staates, wo das Zerrbild eines Funktionärs im kranken Mann Europas nur das „beste Deutschland“ aller Zeiten erkennen kann, ist die politische Klasse weitgehend unfähig zu Selbstkritik und damit zu einer nachhaltigen und dringend benötigten Kurskorrektur. Erfahrung steht unter Verdacht. Ungebildete, Unerzogene, Unbelehrbare regieren das Land und sind auch noch stolz auf ihren von Kenntnissen und Leistungen ungetrübten Aufstieg. Aus Unbedarftheit wird gefährliche Besserwisserei und ideologische Verbohrtheit.

V.

Die grüne Reideologisierung der Politik richtet in der Berliner Republik den größten Schaden an. Sie zerstört Bewährtes und inszeniert statt schrittweiser Reformen und behutsamer Anpassung an die veränderten Zeitläufte eine Umwertung aller Werte von oben. Lautstarke Minderheiten geben den Ton an. Pervers daran ist, dass diejenigen, die die Berliner Republik rücksichtslos auf den Kopf stellen, alternativlos Konsens einfordern. Die wegweisenden Entscheidungen der Bonner Republik (Westbindung, Marktwirtschaft) wurden alle aus dem demokratischem Dissens heraus entwickelt. In der Bonner Republik wurde argumentiert und zielorientiert gestritten, in der Berliner Republik wird diffamiert und die Umwälzung moralisch begründet.

VI.

Konservativ zu sein, bedeutet nicht, der Illusion des „Zurück“ zu folgen, sondern sich an bewährten und gesicherten Werten und Erfahrungen zu orientieren. Sie werden jedoch im Zeichen von Cancel Culture auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Statt aus der Herkunft Schlüsse abzuleiten, wird sie verächtlich gemacht. Unter der Flagge des Wandels wird wahrer Fortschritt verhindert.

VII.

So wird versucht, in der Berliner Republik ganz Deutschland zu einem Tal der Ahnungslosen zu machen. Viele Ostdeutsche spüren das stärker als die meisten Westdeutschen. Sie haben nicht bloß die DDR verloren, sondern danach wurden ihnen auch noch ihre Illusionen von der Bonner Republik gründlich genommen. Die letzten Verteidiger der Bonner Republik, so sieht es leider aus, stammen aus der DDR. Das ist keine Veränderungserschöpfung. Es kommt aber entscheidend darauf an, welche Veränderungen den Bürgern zugemutet werden. Und von wem. Das, was den Bürgern heute aufgezwungen wird, grenzt an Umsturz von oben. Sich ihm schicksalsergeben hinzugeben, gelingt nur Untertanen. Mündige Bürger sind nicht erschöpft, sondern empört.