Tichys Einblick
Anmerkungen zur „Inneren Einheit“

Warum Chemnitz?

Biedenkopf trat nicht als erster Demokrat auf, sondern eher als letzter Churfürst. L’état c’est moi: Die Fortsetzung des sozialistischen Obrigkeitsstaats mit anderen, freundlicheren Mitteln. Der Staat regelt alles, das war die neue, alte Botschaft.

Der Gründer von „Pro Chemnitz“, Martin Kohlmann, hat während der Demonstration am Donnerstag die rhetorische Frage gestellt, ob „wir“ mit Polen, Ungarn und Tschechen nicht mehr gemein hätten, als „mit diesen Wessis“?

Hier ist eine Antwort.

I.

Ja, in diesem Punkt hat der Mann vermutlich recht. „Wir“: das sind allerdings höchstens ein Drittel der Ostdeutschen, von dem wiederum nur ein Bruchteil auch in Chemnitz protestiert, Nazis daneben. Und, ja, was da in Chemnitz geschieht, ist auch eine Spätfolge der sogenannten Wiedervereinigung, vulgo: Beitritt. Die überwiegend aus dem Westen importierten neuen Staats-Funktionäre verwechselten Patriotismus mit Blindheit. Die „Innere Einheit“ galt als eine Aufgabe des Guten Willens und vieler Milliarden. Die Frage, ob die Folgen der DDR-Sozialisierung nicht länger nachwirken werde und stärker sei als die nationale Zugehörigkeit, wurde gar nicht erst gestellt.

II.

Es ist nicht zu leugnen, nicht vom Mainstream und nicht von den „Rechten“, dass es in den neuen Bundesländern mehr Rechtsradikale gibt, und dass die AfD die Chemnitzer Abwässer auf ihre Mühlen leitet. Ob sich ihre Anhänger als Wendeverlierer empfinden, oder ob der offizielle Antifaschismus der DDR eine Aufarbeitung der Naziverbrechen eher verhindert hat, spielt keine Rolle. Fakt ist: Die Demokratie als Staatsform – vor allem in ihrem real existierenden Zustand, findet im Osten bis heute geringere Akzeptanz als im Westen. Man wollte im Westen wie im Osten die fremdenfeindlichen Exzesse in Hoyerswerda und Rostock gleich nach der Wende als Kinderkrankheiten der noch jungen Demokratie in den neuen Bundesländern abtun.

III.

König Kurt (Biedenkopf) glaubt noch immer, „seine“ Sachsen seien „immun“ gegen Rechtsradikalismus. Solche Realitätsverweigerung ist mit dafür verantwortlich, dass ein nicht zu ignorierender Teil der ostdeutschen Bevölkerung bis heute für eine offene Gesellschaft nicht zu haben ist. Biedenkopf trat auch nicht als erster Demokrat auf, sondern eher als letzter Churfürst. L’état c’est moi: Die Fortsetzung des sozialistischen Obrigkeitsstaats mit anderen, freundlicheren Mitteln. Der Staat regelt alles, das war die neue, alte Botschaft. Und daran glauben das Drittel der Protestierer und AfD-Wähler bis heute.

IV.

Umso verheerender, wenn dann der Staat versagt. Nicht nur, dass auch König Kurts Nachfolger die Feinde der offenen Gesellschaft bis heute unterschätzen und die Probleme beschönigen. Sicherheit und Ordnung sind an manchen Orten suspendiert. In den Ausländerbehörden wie auf dem größten Platz von Chemnitz. Den braven Bürger graust es. Wen soll er wählen? Die Versager oder die Scharfmacher? Es herrscht hier wie da im ganzen Land ein Mangel an Vernunft und Augenmaß, und ein Übermaß an Dummheit. Wir erleben die Herrschaft der Dummheit auf den Straßen und in den Institutionen. Sie ist der größte Feind der offenen Gesellschaft. Dieses Land lässt sich nicht gesund beten und nicht betäuben. Der Staat aber ignoriert die Wirklichkeit: den Clash of Cultures ebenso wie den wachsenden Radikalismus.

V.

Es ist mehr als ein Treppenwitz der Geschichte, dass eine in der DDR sozialisierte Kanzlerin auf der Brücke der „Deutschland“ im Herbst 2015 gegen den Eisberg „Migration“ schrammte. Die Besatzung bestreitet es bis heute, noch sinkt er ja nicht, der große Kahn. Vorsichtshalber reduziert der Kapitän ein wenig die Geschwindigkeit. Auf den Oberdecks ist kaum etwas zu spüren gewesen. Es spielt die Kapelle wie eh und je. Nur in den unteren Decks weitet sich der Riss zum Spalt und die Passagiere rumoren.

VI.

Auch Merkels protestantisch-kommunistischer Humanismus ist ein Erbe der DDR. Auch sie zeigt für die offene Gesellschaft zu wenig Gespür, sonst hätte sie nicht wie eine Politbürovorsitzende das gültige Grenzregime im Alleingang ausgesetzt und das Problem der Akzeptanz ihrer Entscheidung ignoriert. Dass ihr lange niemand widersprochen hat: Auch das folgt dem autoritären Muster der DDR. Längst erweist sich, dass Duckmäusertum und Opportunismus (beschönigend: Geschlossenheit) auch im Westen gut gedeihen. Wer ist da eigentlich wem beigetreten? Dass die Westdeutschen dies bis heute nicht ganz begreifen, liegt auch daran, dass man (Kohl, Genscher, Brandt) ihnen den DDR-Beitritt als Schnäppchen der Geschichte schmackhaft gemacht hat – statt als Ende der Bonner Republik. Die ist ebenso versunken wie die DDR.