Tichys Einblick
Option „später zahlen“

Vom Fortschritt des Rücktritts. Zur Absurdität der deutschen Politik.

Die deutsche Demokratie tritt vom fälligen Rücktritt der Kanzlerin zurück und atmet auf. Dieser Rücktritt vom Rücktritt wird für Fortschritt gehalten. Bei Seehofer gilt der Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt als unvermeidbar.

Alle kommen allen entgegen. Auch so kann man einander aus dem Weg gehen – und dem eigenen Rücktritt gleich mit dazu. Lösungen sind nur Behauptungen. Die Sache, um die es angeblich geht, ist nicht sachdienlich. Der Rechtsweg als erhoffter Fluchtweg. Ob „europäisch“ oder „national“ ist dabei einerlei – denn Politik wird ohnehin nur simuliert. Die meisten Wähler nehmen die Simulation für echt, sie kennen es nicht mehr anders.

I.

Vor einer Woche trat ich hier an diesen Stelle von meiner Arbeit als Kanzlerkritiker zurück. An der amtierenden Kanzlerin will ich mich nicht mehr abarbeiten, schrieb ich. Und nun mein Rücktritt vom Rücktritt? Soll ich den rückwärts eingesprungenen dreifachen Seehofer riskieren? Die ganzseitige Anzeige einer bayerischen Autovermietung verspricht: „Egal, wie Sie sich entscheiden: bis zur letzten Minute kostenlos zurücktreten.“

II.

Man übersieht ihn fast – ganz klein gedruckt steht darunter noch ein Satz: „Kostenlose Stornierung setzt die Option `später zahlen´ voraus.“ Das ist der eigentliche Witz an der Sache: „Später zahlen.“ Der Rücktritt kostet seinen Preis, der Rücktritt vom Rücktritt auch. Ich bin nicht bereit, zu bezahlen, aber ich bin weder Politiker, noch springt der Steuerzahler für mich ein.

III.

So ist es im wahren Leben, sogar in der Politik. Es gibt keinen kostenlosen Rücktritt, und auch der Rücktritt vom Rücktritt ist niemals umsonst. Er ist bei Seehofer sogar schon eingepreist. Bezahlt wird bei den nächsten Wahlen, in Bayern für Seehofer, in Hessen für Merkel. Beide haben die Option „später zahlen“ gewählt.

IV.

Die gesamte Migrationspolitik der letzten Wochen ist nicht einmal mehr Symbolpolitik; sie ist nur noch ein Symbol von Symbolpolitik. Die deutsche Migrationspolitik ist in höchstem Maße uneigentlich. Das ist ihre eigentliche Misere. In den geplanten „Transitzentren“ (wie sie nun genannt werden), sollen die Asylbewerber nur zwei Tage lang bleiben, ehe sie in „normale“ Einrichtungen kommen, also in den meisten Fällen auf immer hier bleiben dürfen – so die Kanzlerin. Allein die sich abzeichnenden Staus auf dem Brenner und anderswo sind dann noch real, sonst nichts.

V.

Es bleibt wie es bisher schon war: Die uneigentliche Kanzlerin will weiterhin nicht die Politik, zu der sie nun symbolisch getrieben wird. Und die Symbolpolitik, die sie will, bringt keinen einzigen Schritt zur Lösung des Problems. Es ist nur die maximale Erregung zum minimalsten Ergebnis.

VI.

Wie ist das zu erklären? Ich glaube, beide, auch die Kanzlerin, sind in Wahrheit schon zurückgetreten. Die Kanzlerin gibt nur noch eine Kanzlerdarstellerin, die auf der Bühne eine Schauspielerin spielt, die eine Kanzlerin spielt, die eigentlich ihr Amt nur noch symbolisch ausübt. Das ist natürlich absurdes Theater.

VII.

Eines der berühmtesten Stücke des absurden Theaters ist „Die kahle Sängerin“ von Eugène Ionesco. Seine Figuren, zwei Ehepaare, sind Opfer ihrer entleerten Sprache. „Die Smiths, die Martins können nicht mehr miteinander reden, weil sie nicht mehr denken können; sie können nicht mehr denken, weil sie nichts mehr bewegen können, weil sie keine Leidenschaften mehr empfinden; sie können nicht mehr sein, sie können irgend jemand, irgend etwas werden; da sie ihre eigene Identität verloren haben, sind sie immer nur die anderen, sind vertauschbar.“ So der Dichter. Mr. und Mrs. Martin begegnen einander wie Fremde: Am Ende sagt Mr. Martin: „Vergessen wir alles, Darling, was zwischen uns nicht gewesen ist (…) und leben wir wie zuvor.“ Falls Sie das an das gegenwärtige Traumpaar der deutschen Politik erinnert, sollten Sie sich fragen, ob Sie als Wähler noch tragbar sind. Antitheater nennt Ionesco sein Stück. Das Theater in Berlin ist Antipolitik.

VIII.

Ich schrieb vor einer Woche: Rücktritt ist kein Putsch, sondern nur „Rückkehr zu normalen demokratischen Abläufen“, mit dem Wechsel beginne die „Renaturierung der deutschen Politik“. Wohlgemerkt: Merkels Rücktritt. Die deutsche Demokratie tritt vom fälligen Rücktritt dieser Kanzlerin zurück und atmet hörbar auf. Der Rücktritt vom Rücktritt wird in ihrem Fall für Fortschritt gehalten. Anders bei Seehofer. Bei ihm wird der Rücktritt vom Rücktritt nur als Aufschub betrachtet. Bei ihm gilt der Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt als unvermeidbar.

IX.

So schreitet das Zurücktreten fort. Obwohl doch eigentlich eine Rückwärtsbewegung, handelt es sich eindeutig um Fortschritt. Auch dieser Fortschritt ist eine Schnecke. Bestenfalls.