Tichys Einblick
Herles fällt auf

Verblasste Mythen: Der Pauker

Wie sich die Zeiten ändern: Früher schlugen Lehrer Schüler. Heute schlagen Schüler Lehrer. Man nennt es Fortschritt. Wann haben Schüler mehr gelernt: Damals oder heute?

An nahezu jeder zweiten Schule werden Lehrer Opfer von physischer oder psychischer Gewalt (Forsa-Umfrage unter 1.200 Schulleitern im Auftrag der Lehrergewerkschaft VBE). Ja, das nennen wir Fortschritt. Damals, als ich zur Schule ging, wurden an gefühlt jeder Schule Schüler von Lehrern geschlagen und psychisch misshandelt.

I.

Das Pendel schlug zur andere Seite aus. Wehrlose Schüler sind unerträglich, wehrlose Lehrer sind lächerlich. Sie verlieren ihre Würde und damit ihre Autorität, ohne die es kein Lehren gibt.

II.

Die Schläger damals nannte man zurecht Pauker. Pauken heißt schlagen. Auch im übertragenen Sinn. Pauken ist intensives, quälendes Auswendiglernen. Pauker war einmal ein Synonym für Pädagoge. Jemand, der anderen etwas beibrachte, meist unter Zwang. Heute steht schon das Wort „beibringen“ unter Verdacht.

III.

„Der Pauker“ heißt ein deutscher Spielfilm aus den ach so schlimmen Fünfzigerjahren von Axel von Ambesser. Heinz Rühmann gibt dem Pauker Dr. Seidel tragikomische Züge. Er ist ein „Pauker vom alten Schlag“ – ein schöner Doppelsinn. Dr. Seidel wird übrigens vom Schüler Harry niedergeschlagen (damals schon von Filmbösewicht Klaus Löwitsch gespielt), kann sich jedoch durch ein Catchtraining Respekt und Beliebtheit erwerben. Ich lasse das unkommentiert so stehen und sage nur: Respekt! Ein Schlüsselwort, nicht nur an Schulen.

IV.

Als mir der Direktor des Gymnasiums grundlos ins Gesicht schlug, stellte mir mein Vater, selbst ein Schuldirektor, frei, den Mann anzuzeigen. Ein Arzt attestierte mir eine Gehörgangschwellung. Ich tat es trotzdem nicht. Traute mich nicht, was ich bis heute bereue. Der Mann war ein widerliches Scheusal. Ich frage mich manchmal, warum geschlagene Lehrer nicht Anzeige erstatten. Warum sie sich so vieles bieten lassen. Die Antwort ist: Weil sie sich von ihren Vorgesetzten, von der Schulbehörde, von der Öffentlichkeit allein gelassen fühlen. Weil sie vor Eltern noch mehr Angst haben als vor deren verwahrlosten Kindern.

V.

Und weil der Wert der Toleranz in dieser Gesellschaft verkommen ist zu hilfloser Wehrlosigkeit. Täter werden zu Opfern erklärt, noch ehe sie etwas getan haben. Sie werden ermuntert – denn, was sie tun, bleibt ohne Konsequenz. So geht der Clash of Cultures an den Schulen meist zulasten der Schule, der Lehrer, der Lernwilligen aus.

VI.

Die Schule ist eine Schule ist eine Schule. Die Schule ist kein Reparaturbetrieb. Ist sie doch. Wenn sie aber nichts anderes mehr ist, ist sie keine Schule mehr, sondern ein Krisengebiet. Das Wort Bildung kommt in diesem Text nur einmal vor. Jetzt. Ich könnte ihn auch weglassen.

VII.

Der Pauker schlägt mit äußerster Kunstfertigkeit. Jedenfalls der über dem Orchester thronende Solist, der mal mit weichem, mal mit hartem Schlägel unüberhörbar den Fluss der Töne gliedert. Auch dies kein risikofreier Beruf. Jeder Fehlschlag ist unüberhörbar. Der Pauker ist in diesem Sinne so etwas wie der Torwart des Orchesters.

VIII.

Ein antiautoritäres Orchester gibt es so wenig wie eine antiautoritäre Schule. Wer das nicht begreift, will nicht begreifen. Ich wünschte mir Schulen, in denen mehr begriffen wird und weniger gepaukt. Aber ganz ohne Pauken geht es wohl nicht. Auch das muss man erst begreifen. Ein schönes Wort. Es kommt nicht von Schlagen, sondern von Greifen, nicht mit der Faust, sondern mit der offenen Hand.

IX.

Um Haydns Sinfonie Nr. 94 in G-Dur mit dem Paukenschlag rankt sich ebenfalls eine falsche Legende. Vom Komponisten selbst wissen wir, dass es ihm nicht darum ging, das eingeschlafene Londoner Publikum aus dem Schaf zu schrecken, sondern darum, es zu überraschen. Ein guter Pädagoge schlägt nicht, er überrascht.