Tichys Einblick
Kein Mangel an Rücktrittskandidaten

Sonderzug nach Kiew

Der Affront gegen das Amt des Bundespräsidenten macht es dem Kanzler unmöglich, den Sonderzug nach Kiew zu besteigen. Doch ist es unerheblich, ob sich Steinmeier oder Scholz oder wer auch immer der Wallfahrt europäischer Politiker anschließen.

Die Wallfahrt nach Kiew wird zum Glaubensbekenntnis europäischer Politiker – und lenkt ab von der Traumtänzerei des Westens. Rücktritte wären glaubwürdiger.

I.

Eigentlich müsste Frank-Walter Steinmeier seinem Kollegen Wolodymyr Selenskyj dankbar sein dafür, in Kiew unerwünscht zu sein. Nun bleibt der deutschen Politik kaum etwas anderes übrig, als die Ausladung unisono als unfreundlich, undiplomatisch, ja stillos zu verurteilen. Denn auch bei demokratischen Präsidenten sind (nach der berühmten Theorie von Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs) Person und Amt zu unterscheiden. Steinmeier repräsentiert ein befreundetes Land. Das sollte mit seiner persönlichen Gesinnung und Politik als Chef des Kanzleramts unter Schröder und Außenminister Merkels nicht vermischt werden.

II.

Nach den Regeln der Diplomatie sollte nun streng genommen der unsägliche ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, zur persona non grata erklärt werden. Die Ukraine verfügt über Politiker und Diplomaten, die unverschämt virtuos mit Worten umgehen und wissen, wo man die Deutschen am besten packt: an ihrer Moralpusseligkeit. Dieselben deutschen Gutmenschen, die sich an pazifistischen Illusionen labten, halten nun Eskalation mit schweren Waffen für sittlich geboten.

III.

Der Affront gegen das Amt des Bundespräsidenten macht es dem Kanzler unmöglich, den Sonderzug nach Kiew zu besteigen. Doch ist es unerheblich, ob sich Steinmeier oder Scholz oder wer auch immer der Wallfahrt europäischer Politiker anschließen. Weder die Ukraine noch Putin lassen sich davon beeindrucken, und auch die verheerenden Fehler nicht wieder gut machen, die den Diktator zum Angriff auf die Ukraine einluden und Deutschland von Russland abhängig machten.

IV.

Dankbar sollte der Berufspolitiker Steinmeier sein, weil er eigentlich nicht nur von einer Reise zurücktreten müsste. Er trägt als letzter noch aktiver Politiker Verantwortung für den wahrscheinlich größten politischen Fehler seit dem Fall der Mauer und sollte das nicht nur bedauern, sondern dafür als Person einstehen, sein Amt ruhen lassen, und zur öffentlichen Aufklärung deutsch-russischer Seilschaften und ihrer finanziellen Verstrickungen beitragen. Aber ohne Druck von außen. Noch einmal: Selenskyj hat ihn gerettet, hat das Gegenteil dessen erreicht, was geboten wäre.

V.

Womit wir beim zweiten Thema der Woche wären, dem Rücktritt der Familienministerin aus mindestens sechs Gründen, von denen jeder einzelne ausgereicht hätte. Anne Spiegels fehlende Präsenz am Abend der Flut. Ihre Ignoranz gegenüber der vorhergesagten Bedrohung. Das Abtauchen in den Urlaub zehn Tage später. Die Lüge von der Teilnahme an Kabinettssitzungen. Die Begründung mit den Corona-Maßnahmeschäden ihrer Kinder, die sie als grüne Spitzenpolitikerin doch mitzuverantworten hatte. Amtsanmaßung durch Überforderung. Natürlich müsste auch die Landesmutter Malu Dreyer Verantwortung übernehmen und Konsequenzen ziehen.

VI.

Es müssten noch andere aus ihren Ämtern verschwinden. Nur ist es nicht mehr in Mode, Verantwortung zu übernehmen. Ob Covidclown Lauterbach oder Rekrutin Lambrecht zuerst ausgemustert wird, sollte allenfalls noch für Wetter relevant sein. Und wie steht es mit der Umweltaktivistin Lemke und dem Landwirtschaftsverhinderer Özdemir? Beide wollen nicht akzeptieren, dass die Folgen des Ukraine-Kriegs ihre Agenda gründlich verändert haben. Erstens kommt jetzt das Fressen, zweitens das Klima. Man bräuchte dafür jetzt andere Ressortchefs.

VII.

Aber wir befinden uns in Deutschland. Hierzulande gilt seit den Jahren des Raubritters Eppelein von Gailingen, der seiner verdienten Strafe durch einen beherzten Ritt über die Burgmauer Nürnbergs entkam, der schöne Spruch: „Die Nürnberger hängen keinen – sie hätten ihn denn zuvor!“ Dass die Raubritter von heute vor allem auf öffentliche Ämter aus sind, steht auf einem anderen Blatt derselben Geschichte.

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