Tichys Einblick
Angst vor Machtverlust

Russlands Tragödie

Es ist ein Grundphänomen der Macht, das Demokraten und Diktatoren teilen: Das meiste, was sie tun und lassen, lassen und tun sie aus Angst vor Machtverlust. Die Mächtigen sind getrieben von Ängsten.

Ohne die Tragödie Russlands ist die Tragödie der Ukraine nicht zu begreifen. Frieden kann es nur geben, wenn sich in Moskau mehr ändert als nur der Tyrann an der Spitze.

I.

In Krisen wie diesen hilft es, sich an ein paar fundamentale Tatsachen zu erinnern. Etwas an Karl Poppers berühmte Definition von Demokratie. Ihr entscheidender Vorteil sei es nicht, bessere Regierungen zustande zu bringen. Demokratie aber ermögliche es, Herrscher ohne Blutvergießen loszuwerden. Dies ist der Kern der Tragödie Russlands. Wäre Russland eine halbwegs funktionierende Demokratie, wäre Putin vermutlich auch Präsident geworden, nur nicht so lange. Aus Angst davor abgewählt zu werden, hätte er sein Land niemals in einen Krieg mit auch für Russland verheerenden Folgen gestürzt. Jetzt führt er den Krieg weiter aus Angst davor, gestürzt zu werden.

II.

Es ist ein Grundphänomen der Macht, das Demokraten und Diktatoren teilen: Das meiste, was sie tun und lassen, lassen und tun sie aus Angst vor Machtverlust. Die Mächtigen sind getrieben von Ängsten. Putin wittert überall Verrat. Verfolgungswahn macht ihn zum mörderischen Verfolger. Selenskyj ist in seinen Augen eben nicht einfach ein Feind, sondern ein Verräter. Feinde bekämpft Putin, Verräter vernichtet er. Aber es gab auch Bundeskanzler, die zwischen Feinden und Verrätern unterschieden, von denen sie sich umzingelt fühlten – die Demokratie zwang sie, sich damit abzufinden.

III.

Russlands Diktatur ist ein korruptes Herrschaftssystem. Unvergesslich bleiben die fahlen Gesichter der führenden Vasallen, während sie Putin lauschten, als er den Krieg befahl. Es war zu sehen, wie Putin sie verachtet und benutzt und nach Belieben herunterputzt. Figuren wie Lawrow, gebildet, gewandt, opportunistisch, vollkommen gewissenlos – ein ähnlicher Charakter wie Hitlers Gehilfe Albert Speer. Die wenigsten dieser Gestalten teilen Putins reaktionäres Geschichtsbild. Sie haben ihm jedoch ihren kleptokratischen Reichtum zu verdanken. Selbst wenn davon gerade das meiste verloren geht, leben sie weiter wie Maden im Speck. Wo ist ihre Schmerzschwelle? Dort, wo ihnen Putin mehr schadet als nützt. Das ist der Sinn der Sanktionen. Denn so wie die Lage ist, können nur die gegenwärtigen Eliten Putin stürzen. Sie werden es dann tun, wenn ihre Angst vor den Folgen des Kriegs größer geworden ist als ihre Angst vor Putin. Putin wird erst dann ernsthaft verhandeln, wenn er um seine Macht ernsthaft fürchten muss – also dann, wenn seine Stärke zu Schwäche geworden ist. Das ist die Hoffnung. Sie trügt, falls Putin wie Hitler sein Land mit in den Untergang reissen will. Es ist bis heute ein Rätsel und eine Tragödie, dass damals der militärische Widerstand so spät und so schwach war. Jede Diktatur lebt vom Konformismus.

IV.

Kann das diktatorische Russland Putin nur blutig loswerden? Zunächst werden die aufwachenden Eliten Putins Großmachtsucht zügeln wollen. Erst wenn das nicht gelingt, müssen sie ihn loswerden. Es steht fest, dass dieser Krieg von Russland noch militärisch gewonnen, ökonomisch und politisch nur noch verloren werden kann. Putin wird stürzen. Aber werden sich die Umstürzler auf einen neuen Machthaber einigen? Es gibt ihn bereits. Es ist nur nicht sicher, ob er es selbst schon weiß. Und welche Grenzen wird man ihm setzen? Das Herrschaftsprinzip Putins ist nicht wiederholbar. Dieser sowjetisch sozialisierte Möchtegernzar passt nicht in das Bild, das sich der demokratische Westen von der Geschichte macht. Deshalb ist er so sträflich unterschätzt, umgarnt und umarmt worden. Auch von den Aufgeklärteren der eigenen Leuten.

V.

Russland hat mittelfristig nur eine Chance. Schlag nach bei Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.” Russland hat alle gängigen Formen der Despotie ausprobiert. Von Iwan dem Schrecklichen über Stalin bis Putin. Selbst die radikalsten Sanktionen können nur dazu beitragen, Putin loszuwerden, aber kein besseres System etablieren. Frieden und Freiheit wird Russland nur als Demokratie finden. Dazu kann es leider niemand zwingen.

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