Tichys Einblick
Merkel und Co.

Nicht der Rede wert

Der Bundestag beweist, wie ausgebrannt Parteien und politische Klasse sind.

Die Willkommenskultur der politischen Elite ist stärker als ihre Streitkultur. Am Mittwoch im Bundestag: Regierungserklärung und die Debatte dazu. Es könnte, es sollte ein Festtag des Parlaments sein. Als Parlamentsreporter habe ich viele erlebt, unter Schmidt, Kohl, Schröder. Jetzt noch einmal Merkel. Merkels (voraussichtlich) letzte.

I.

Noch das Vielsagendste war ihr bewegungsloses Gesicht, während die anderen sprachen. Diese unnachahmliche Mischung aus bedröppelt, belustigt, befremdet, betreten. Die Erklärung, die sie zuvor verlesen hatte, alles andere als bewegend. Wichtigster Halbsatz: „Inzwischen kennen Sie mich.“ Nur zu gut.

II.

Womöglich wohnte ich einer anderen Debatte bei als der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. „Merkels furioser Auftritt“, dichtete die Alpen-Prawda. Das ist kurios. Als ich Journalist wurde und bei der Süddeutschen mit Gewinn praktizierte, galten noch Prinzipien: Erste Journalistenpflicht war Kritik an jeder Regierung. Gar nicht kritisieren ging nur ausnahmsweise. Eine haltlose Eloge hätte unweigerlich den Selbstmord des Berichterstatters erzwungen, schon aus Scham. Der Versuch eines Journalisten, die stolze Postille zum Reklameblättchen eines CDU-Vorsitzenden zu machen, hätte die Chefredaktion zu einer Bußwallfahrt zu Fuß nach Altötting genötigt.

III.

Welt: „Sie redet, wie sie redet.“ SPON: „Dieses so trockene wie müde Gefühl der Zufriedenheit“. Ich war also doch nicht bei einer anderen Veranstaltung. Tatsächlich „ist Merkel, wie jetzt zu hören war, nicht entgangen“ (FAZ) dass dieses Land sich unter ihrem Regime zum Nachteil verändert, gespalten hat. Ja, es war zu hören. Bloß wie? Hier als Beleg ein Schlüsselsatz aus der Regierungserklärung: „Das Zusammenleben der Religionen stellt uns vor große Aufgaben.“ An diesem Satz ist nichts falsch, abgesehen davon, dass nichts an ihm richtig ist.

  1. Es geht nicht um das Zusammenleben von Religionen sondern von Bürgern.
  2. Es sind nicht die Religionen, sondern nur eine einzige, der Islam. Die Gleichsetzung aller Religionen verharmlost die Virulenz des politischen Islam.
  3. Nicht diese eine Religion stellt uns (pluralis majestatis?) vor große Aufgaben, sondern AM hat durch eigene Fehlentscheidungen ihre Regierung vor große, vermutlich nicht mehr lösbare Aufgaben gestellt.
IV.

Auf den Unsinn, dass der Islam „inzwischen zu Deutschland gehört“ gehen wir nicht mehr ein. Dass er von AM ständig wiederholt wird, nunmehr gegen ihren eigenen Innenminister gerichtet, zeigt nicht nur, wie sehr die Gesellschaft gespalten ist, sondern auch Merkels eigener Verein. Merkels der Überwindung dieser Spaltung gewidmete Rede wiederholt diesen Unsinn und vertieft damit die Spaltung. In ihrer Selbstgerechtigkeit hat AM entgegen der eigenen Beteuerung nichts begriffen. Zweifellos gilt der Satz: „Das Weiterregieren der Koalition unter Merkel stellt uns vor große Aufgaben.“

V.

Dieses Parlament ist ein Abgrund an Landesverrat. Nein, so weit will ich nicht gehen. Es ist nur ein Abgrund an Gedankenschwäche. Merkels Vortrag wurde noch unterboten von den nachfolgenden Reden der führenden deutschen Parlamentarier – ausgenommen die von Christian Lindner (siehe Alexander Wallasch in TE). Auch die beiden Fraktionschefs der AfD, besonders Gauland, wirkten müde, uninspiriert, beinahe gelangweilt. Was sie und alle anderen sagten, war nicht der Rede wert. Mein Eindruck: Die müssen dringend unters Sauerstoffzelt.

VI.

Diese Debatte ist nur ein Symptom für den Zustand der politischen Klasse. Parteien, so wie sie mittlerweile dieses unseres Land deformiert haben und selbst deformiert sind, sind den Ansprüchen einer modernen Demokratie nicht gewachsen. Soll Deutschland sich bewegen, brauchen wir Bewegungen gegen die versteinerten Parteiapparate. Nicht im altdeutschen Sinn als Kult um eine Führungsfigur, sondern als bewegende Kraft. Macron und Kurz haben die Parteien, aus denen sie kamen, verändert. In Deutschland wird das wegen des Wahlrechts und der Stellung der Parteien als Arbeitgeber des politischen Komplexes schwerer sein.

VII.

Man wird noch träumen dürfen: Ich stelle mir eine bürgerliche Bewegung um Christian Lindner, eine linke Bewegung um Sahra Wagenknecht vor. Sie würden gegeneinander und doch gemeinsam dem Rest Beine machen.