Tichys Einblick
Die Entropie unserer politischen Kultur

Nachruf auf die Zuversicht – Oder: Was Ludwig Wittgenstein dem Bundespräsidenten zu sagen hätte

Corona ist nur das aktuelle Muster. Auch in Sachen Klimaerwärmung und Energiepolitik ist der selbe Mechanismus eines degenerierten demokratischen Diskurses zu erkennen. Nur, weil es uns noch gut geht, geht es nicht gut. Darüber muss man sprechen. Man darf nicht schweigen.

Mein Vater hatte zwei Weltkriege auf dem Buckel, zwei Diktaturen, den Zusammenbruch von drei Staaten, in denen er lebte, ohne den Wohnort zu wechseln. Trotzdem nimmt das Empfinden zu, in den vergangenen dreißig Jahren meines eigenen Lebens hätte sich die Welt radikaler verändert als während der achtzig Lebensjahre meines Vaters. Ist das nur ein subjektives Gefühl? Jedenfalls kein gutes. Denn mir – und ich nehme an: nicht bloß mir – kommt allmählich abhanden, was meinen Vater niemals verlassen hatte: die Zuversicht.

I.

Wie das? Ich habe keine Katastrophe überleben müssen. Mein Leben war lange bestimmt von Wachstum. Wachstum an Wohlstand, Wachstum an persönlicher Freiheit. Heute beschäftigen mich, und nicht nur mich, die Abnahme an Freiheit und materielle Zukunftsängste. Nennen wir es, wie es ist: Sorgen über die seit Jahren schleichende Enteignung und Entwertung des Erworbenen. Dieses Land ist heute in einer schlechteren Verfassung als zu Ludwig Erhards Zeiten, weil ihm – messbar – die gesellschaftliche Dynamik und das Vertrauen in den technologischen Fortschritt verloren gegangen ist. Unseren Kindern wird es nicht automatisch besser gehen. Es geht insgesamt bergab. Wir sind keine Aufsteigergesellschaft mehr. Von der Globalisierung profitiert nur eine kleine Minderheit. Bei den meisten anderen macht sich Verzichtsethik breit. Der Krisenmodus wird als „neue Normalität“ begrüßt. Doch die Regierenden werden trotzdem mit einem hohen Maß Zufriedenheit belohnt. Der staatliche Dirigismus feiert seit der Fusion mit der DDR eine Renaissance. Utopien ersetzen den Realitätssinn. Der Niedergang wird geradezu zur moralischen Notwendigkeit erklärt.

II.

Ein Virus entschuldigt den Verfall. Der Klimawandel begründet ihn. Sind das die beiden „Weltkriege“ meines Lebens? Es herrscht Kriegswirtschaft. Alle sollen sich beugen. Einsprüche sind nicht verboten, aber im Diskurs ernst genommen werden sie nicht. Jüngstes Beispiel: Der Bundespräsident sagte vor wenigen Tagen, man dürfe die bisherigen Erfolge im Kampf gegen die Corona-Pandemie nicht gefährden. Dieser Satz schließt jede demokratische Debatte und Handlungsalternativen im Grunde aus. Was ein Erfolg ist, bestimmt allein das Juste Milieu. Die gewaltigen ökonomischen, kulturellen, physischen wie psychischen Kollateralschäden des „Erfolgs“ werden nicht berücksichtigt. Steinmeier steht im Dienste einer gewaltigen Selbsttäuschung, wenn er von oben herab zugibt, es gebe sicherlich unterschiedliche Sichtweisen auf die Pandemie und die Maßnahmen, ja, die Meinung anderer müsse ernst genommen und respektiert werden. Aber genau das geschieht nicht, wenn er zugleich grundsätzlich Unverständnis dafür äußert, dass wissenschaftliche Erkenntnisse „gänzlich in Zweifel gezogen“ werden. Dass kritische Meinungen unterdrückt und die Kritiker gleich in die Ecke der Rechtsradikalen gedrängt würden, nimmt er nicht zur Kenntnis. Was gute Wissenschaft ist, und was unzulässige Wissenschaft, bestimmen die Regierenden. Corona ist nur das aktuelle Muster. Auch in Sachen Klimaerwärmung und Energiepolitik ist der selbe Mechanismus eines degenerierten demokratischen Diskurses zu erkennen. Es darf zwar alles gedacht und gesagt werden, aber bitte nicht in Handeln einbezogen. Wir erfahren eine Reideologisierung wie in Zeiten des Krieges. Damals war die Apokalypse real, heute ist die Apokalypse das propagandistische Instrument der Herrschenden.

III.

Es fehlt eine ernst zu nehmende, schlagkräftige, als Alternative bereit stehende Opposition. In Sachen Corona und überhaupt. Die Grünen als stärkste Oppositionspartei regieren in Wahrheit längst mit. Zu den Krisen im Kampf gegen Naturkatastrophen kommt somit die Krise der Demokratie. Die zunehmenden Ängste verstärken die Sehnsucht nach autoritärer Führung. Es fehlt die Stimme der liberalen Vernunft. Soweit sie sich in der FDP verkriecht, klingt sie verzagt und unterwürfig. Diese „Liberalen“ taugen nicht zum Widerstand. Sie tendieren zu Anpassung und Bequemlichkeit. Sie suchen eine Mitte um der Mitte willen. Über die Degeneration der einst großen Volksparteien in dieser Hinsicht länger zu klagen, ist sinnlos.

IV.

Damit sind wir im Kern aller Krisen. Es handelt sich um einen Kulturkampf um das, was gesagt und gedacht werden darf. Mein Vater hatte den Ersten Weltkrieg gerade hinter sich, als sein Landsmann Ludwig Wittgenstein jenes Traktat schrieb, dessen Wahrheit erst heute ganz begriffen werden kann. Wittgenstein hat mit mathematischer Klarheit und elementarer sprachlicher Kraft philosophiert: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Ja, genau so ist es. Indem die Sprache begrenzt wird, wird die Welt verengt. Culture Canceling und Genderei sind andere Worte für einen Geistes- und Sprachverfall. Und damit gehen auch wesentliche Antworten auf die Krisen unserer Zeit verloren. Wittgensteins Satz trifft ins Schwarze: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ Wer die Probleme der Menschheit lösen will, muss zunächst die richtigen Fragen stellen. Diese schlichte Erfahrung gibt die Menschheit gerade besseren Wissens auf. „Die Gesamtheit der wahren Gedanken sind ein Bild der Welt“, schrieb Wittgenstein. Wenn die Zahl der wahren Gedanken abnimmt, weil sie nicht willkommen sind, wird das Bild der Welt blass und verfälscht.

V.

„Die Welt ist alles, was der Fall ist“ beginnt Wittgensteins Traktat. Ich paraphrasiere: „Die Welt ist alles, was fällt.“ Dieser Fall benötigt keine Kriege und keine Revolutionen. Sie fällt ganz leise. Es genügen die Krisen. Wir erleben die Entropie unserer politischen Kultur. Und schauen weg. In der kurzen Spanne, in der die Welt für mich der Fall ist, verliere ich das Vertrauen in die Demokratie. Nur, weil es uns noch gut geht, geht es nicht gut. Darüber muss man sprechen. Man darf nicht schweigen.