Tichys Einblick
Meine Buchmessenwoche

Macron und Merkel, Houellebecq und die Blondinen

Europa hat keine Hauptstadt und braucht keine Hauptstadt. Europas Hauptstädte tragen zur Wirtschaftskraft ihres Landes maßgeblich bei - nur Rom und Berlin nicht; aber sie schauen aufs Volk so runter wie Paris.

Brüssel ist keine Hauptstadt. Frankreich ohne Zentralismus wäre schön. Berlin liegt am Rande. Die Buchmesse findet außerhalb statt. Und Karl Marx war kein Marxist.

I.

Montag. Ein Schwein läuft durch Brüssel. Der Präsident der European Pig Producers (EPP) bekommt es mit der European People´s Party (EPP) zu tun. Und eine Beamtin macht sich Sorgen, wie man das Image der EU-Kommission verbessern könnte. Kann aus solchem Stoff der beste Roman des Jahres gemacht sein, der heute den Deutschen Buchpreis bekommt? Ja, sogar zu Recht. Zugegeben, der Österreicher Robert Menasse ist kein Kafka, für den der Brüsseler Beamtenmoloch ein gefundenes Fressen gewesen wäre. Menasse hat nach monatelangen Recherchen im Maschinenraum der Institutionen fast ein Wunder geschafft und ein unterhaltsames, so hochironisches wie hellsichtiges Buch gemacht. Wer es liest, versteht manches besser. Auch die Krise. Obwohl Menasse nicht urteilt. Gute Bücher nehmen dem Leser nicht das Denken ab. Nur der Titel stimmt nicht: „Die Hauptstadt“. Europa hat keine Hauptstadt und braucht keine Hauptstadt.

II.

Dienstag. Macron spricht heute gleich zweimal in Frankfurt, denn die französische Literatur ist Gastland der Buchmesse. In Frankreich wird mehr und anspruchsvoller gelesen. Auch das zahlt auf das Konto Europas ein. Die Sprachenvielfalt als Bereicherung, nicht als Mauer: Das ist auf der Frankfurter Buchmesse jedes Jahr zu erleben. Und davon spricht Macron, nicht im Stil einer Sonntagsrede, sondern indem er sich selbst glaubwürdig und überzeugend als homme de lettres erweist. Chef feuilleton Jürgen Kaube, FAZ, ist so hingerissen, dass er Franzose sein und von Macron regiert werden will. Putzig. Wenn ich Macron neben Merkel erlebe, geniere ich mich unwillkürlich für diese säuerliche, schwerzungige Biederkeit der Kanzlerin.

Diese schludrige Sprachignoranz! Wenn Sprache die Basis von Bildung ist, dann ist Merkel ungebildet. Wenn Liebe zur Sprache die Basis von Patriotismus ist, dann sind nicht bloß Merkel, sondern viele Patentpatrioten Vaterlandsverächter. Auch Charisma soll man nicht unterschätzen. Macron hat es, Merkel wird es nicht einmal angedichtet. Wenn aus Europa noch etwas werden will, braucht es Charismatiker, die zu einem neuen Narrativ fähig sind. Macron minus französischen Zentralismus, wäre eine Hoffnung.

III.

Mittwoch. Braucht Deutschland eine Hauptstadt? Jahrhundertelang hat es keine nötig gehabt. Die Kaiser wurden in Frankfurt gesalbt, aber Hauptstadt war es nicht. Immer wenn ich hier bin, drängt sich der Gedanke auf, wie viel besser Frankfurt zur Hauptstadt getaugt hätte als Berlin. Wäre man zu Beginn nicht auf „das Provisorium“ Bonn verfallen, sondern hätte Frankfurt genommen, wäre es vermutlich noch heute Hauptstadt. Hätte sich behauptet gegen den verlotterten Aberwitz namens Berlin. Ohne den Größenwahn, ohne die Unfähigkeit, die der Berliner Mentalität zu schulden sind. Frankfurt verbindet die deutsche Kultur mit der deutschen Wirtschaftskraft. Buchmesse und Banken. Paulskirche und Börse. Das Faustische und das Vernünftige. In der Mitte, nicht am Rand der sibirischen Steppe. Alle Hauptstädte Europas sind auch Wirtschaftsmetropolen und tragen zur Wirtschaftskraft ihres Landes maßgeblich bei. Nur Berlin (und Rom) machen eine Ausnahme. Berlin lebt auf Kosten des Landes, auf das es mit größter Überheblichkeit herabschaut.

IV.

Donnerstag. Der Wesenskern der Buchmesse ist nicht in den Messehallen zu finden, sondern zum Beispiel bei der legendären Messeparty des Verlegers und Übersetzers (aus dem Französischen) Joachim Unseld in seinem Privathaus. Die interessantesten Frauen scheinen sich bei ihm zu versammeln. Die Macht der Sprache: Auf der Terrasse steht Frankreichs Literaturstar Michel Houellebecq, der mit seinem Roman „Die Unterwerfung“ die Islamdebatte auch bei uns wie kein anderer befeuert hat. Der Dichter muffelt und hat verrottete Zähne. Aber der Sexappeal seiner Bücher ist stärker. Blondinen bevorzugen ihn. Er muss sich dabei den ganzen Abend nicht von seinem Stehtisch rühren.

V.

Freitag. Bücher erweitern auch den Horizont, weil die meisten nicht für Filterblasen taugen. Mir geht es auch heute wieder so. Hielt Karl Marx immer bloß für einen Todfeind der Freiheit. Jetzt las ich die neue Marx-Biografie von Jürgen Neffe und diskutierte mit dem Autor, der alles andere als ein Marxist ist. Aber Marx selbst ist ja keiner gewesen. Ein Romantiker, der die erste industrielle Revolution schärfer und besser analysierte als jeder andere und dennoch zu falschen Antworten fand. Aber die Analyse war bezwingend – und ist sie noch immer für die zweite industrielle Revolution. Wenn die Digitalisierung zur Abschaffung der Arbeit führt, führt sie auch zum Ende der Entfremdung. Dann hat sich der Kapitalismus von Innen doch noch selbst überwunden – nur ganz anders, als Marx glaubte. (Davon bald mehr in Tichys Einblick).


Wolfgang Herles ist Schriftsteller und (TV-) Journalist, er schrieb mehrere Romane und zahlreiche politische Sachbücher, zuletzt Die Gefallsüchtigen in dem er das Quotendiktat der öffentlich-rechtlichen Medien und den Populismus der Politik attackiert. Sie erhalten es in unserem Shop: www.tichyseinblick.shop