Tichys Einblick
Kulturkampf

J´accuse! Nicht die Verurteilung, doch das Strafmaß für Weinstein verrät Unrecht

Ein Richter schießt über das Ziel hinaus, um sich dem feministischen Zeitgeist an den Hals zu werfen.

Nein, es gibt keinen Grund, Weinstein für unschuldig zu halten. Auch wenn die Unschuldsvermutung in diesem Fall suspendiert scheint. Ja, er hat wohl geglaubt, für ihn gelte ein eigenes Recht. Perverserweise ist das nun tatsächlich so. Für ihn gilt ein eigenes Recht, wenn auch zu seinem Schaden und zu Lasten der Gerechtigkeit. Das Strafmaß für Harvey Weinstein – dreiundzwanzig Jahre Gefängnis – ist ein Angriff auf den Rechtsstaat.

I.

Auch Schuldige können von Unrecht geschlagen sein. Dadurch werden sie nicht unschuldig und dennoch zu Opfern. In diesem Fall: Opfer eines militanten Feminismus. Geopfert wird auch die Gerechtigkeit. Denn diese Strafe ist nicht verhältnismäßig. Ein Richter schießt über das Ziel hinaus, um sich dem feministischen Zeitgeist an den Hals zu werfen.

II.

Nein, was Weinstein trifft, ist keine Strafe, es ist Verdammnis, drakonischer als für manchen Mörder und Mafioso. Dem sexuellen Missbrauch folgt der Missbrauch der Justiz auf dem Fuß.

III.

Abschreckung wird zum alleinigen Maßstab dieser Strafe. Das Strafmaß erst macht aus Weinstein ein Monster. Von Reue und Resozialisierung bisher Unbescholtener ist keine Rede mehr. Die wird einem Mann wie Weinstein nicht abgenommen und nicht zugebilligt. Wirklich monströs ist damit nur die Strafe.

IV.

Willkür bleibt Willkür, auch wenn sie den Paragraphen entspricht. Hier macht sich der Rechtsstaat USA gemein mit Unrechtsstaaten wie Russland und Türkei.

V.

Der feministische Furor geht fehl. Denn hier kommen Frauen nur als Opfer vor. Als hilflose, erniedrigte, eingeschüchterte und unterdrückte Wesen. Als Objekte. Wollen sie das? Merken diejenigen, die für ihre Karrieren fast alles zu tun bereit waren, wie sie sich selbst erniedrigen? Das Triumphgeheul aufgetakelter Schlampen, pardon Opfer, nach der Strafmaßverkündigung im New Yorker Gerichtssaal widert an. Da wird Rachsucht gesellschaftsfähig.

VI.

Weinstein ist nicht der einzige. Andere trifft nur der Ritualrufmord einer aufgepeitschten MeToo-Gesellschaft. Woody Allens Buch wird in den USA de facto verboten. Wenigstens der deutsche Rowohlt-Verlag stellt sich hinter seinen Autor, obwohl Autoren und Autorinnen protestiert haben. Allen wurde nie verurteilt. Nichts ist bewiesen. Aber auf Beweise kommt es den Flintenweibern und Kreuzrittern nicht an. Gegen die Jahrhundertstimme Placido Domingo wurde nicht einmal ein Verfahren eröffnet, aber er darf in den USA nirgends mehr auftreten. Polanskis grandioser und zurecht preisgekrönter Film J´accuse über die Dreyfusaffäre wird auch desavouiert, kann in den USA nicht gezeigt werden. Wo ist der Emile Zola, der gegen diese Welle der Inquisition endlich die Stimme erhebt?

VII.

Weinstein und andere büßen nicht nur für ihre eigenen, ob bewiesenen oder unbewiesenen Taten, sondern dafür, dass sie alte, weiße, ehemals mächtige und auch noch prominente Männer sind. Ihre kulturellen Leistungen wirken nicht strafmildernd, sondern straferschwerend. Denn gegen ihresgleichen wird ein Kulturkampf geführt. Und der Gerichtssaal wird zum Kriegsschauplatz. Und das in einem Land, dessen alter, weißer Präsident selbst übergriffig geworden sein soll und sich mit ekligen Chauvisprüchen hervorgetan hat. Weinstein sitzt auch für Trump, an den man nicht heran kommt.

IX.

„Toxische Männlichkeit“ heißt das neu entdeckte Virus. Um es zu bekämpfen, wird alles in Kauf genommen werden. Und die Gerechtigkeit gerät in Quarantäne. Alte, weiße Männer werden isoliert.

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