Tichys Einblick
Das Mitglied Ukraine würde die EU überfordern

Falsche Motive, schlimme Folgen

Mit dem Aufnahmeprozess der Ukraine wiederholt die EU den Fehler, den sie mit der Türkei schon vor 22 Jahren gemacht hat. Der Prozess führt zu keinem Ende, aber man will ihn nicht offiziell beenden.

Kanzler Scholz will die Ukraine in die Europäische Union aufnehmen. Kandidatenstatus sofort. Dem um seine Existenz ringenden Land würde damit ein Herzenswunsch erfüllt. Was aber würde es für die EU bedeuten?

I.

Belohnen, behaupten, beschwichtigen. Für die Ukraine ist der Aufnahmeprozess eine Belohnung für die tapfere Verteidigung europäischer Werte. Ihre Zugehörigkeit zur „Familie“ und auch der Kandidatenstatus aber sind eine Behauptung. Wie ein Bio-Siegel auf einer Flasche, von der man nicht genau weiß, was drin ist. Und natürlich soll die Aufnahmeprozedur den Ärger über mangelnde militärische Hilfe im Krieg gegen Putins Barbaren beschwichtigen. Der Kandidatenstatus soll davon ablenken, dass die Ukraine aus guten Gründen nicht in die Nato aufgenommen wird. Die EU ist zwar kein Verteidigungsbündnis. Sie fühlt sich aber genau so an.

II.

Was ist der Sinn der Europäischen Union? Von ihren Anfängen als EWG, als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft an, war sie vor allem ein Binnenmarkt. Die Vorteile des gemeinsamen Marktes könnten der Ukraine auch ohne Mitgliedschaft gewährt werden. Es wäre auch ein Angebot zu weiterer Integration auf lange Sicht.

III.

Die Ukraine wird den Wiederaufbau nach dem Krieg ohnehin nicht allein stemmen und die EU gewaltige Summen in das von Russland zerstörte Land pumpen. Aber die EU ist längst auch eine Umverteilungsmaschine, neuerdings auch eine Schuldenunion. Die Aufnahme der Ukraine würde die EU überfordern. Diese Last käme zu allen anderen Lasten auch auf die Bundesbürger hinzu. Die Folgen wären katastrophal, wenn das riesige Nehmerland den Wohlstand insgesamt nach unten drückt. Es würde die Sympathie für Europas Union schwächen.

IV.

Mit dem Aufnahmeprozess wiederholt die EU den Fehler, den sie mit der Türkei schon vor 22 Jahren gemacht hat. Der Prozess führt zu keinem Ende, aber man will ihn nicht offiziell beenden. Die EU wird die Türkei nicht mehr los. Im Gegenteil, sie schürt immer wieder neue Hoffnungen und sät neue Enttäuschungen für die Zeit nach Erdogan. So ähnlich könnte es auch der Ukraine ergehen.

V.

Die Ukraine ist kein demokratisches Musterland, weder ein Rechtsstaat noch ein Sozialstaat europäischer Prägung. Es ist weit entfernt von Standards etwa in punkto Verwaltung und Korruption. Wer auch immer die Ukraine regiert, das Land wird so schnell kein pflegeleichter Mustereuropäer sein. Mit der in der sowjetischen Machtsphäre erworbenen Mentalität und einem erwachenden Nationalismus wird es die Zentrifugalkräfte erhöhen.

VI.

Wer die Ukraine aufnimmt, wie auch noch Moldau und die Länder des Balkan, fügt der Idee der Einheit Europas Schaden zu. Mit der Aufnahme der Ukraine wird das erklärte Ziel, nämlich die Entwicklung der EU zu einem föderalen Bundesstaat unmöglich. Die seit langem wiederholt gemachte bittere Erfahrung, dass die EU nicht zugleich erweitert und vertieft werden kann, wird ein weiteres Mal ignoriert. Das wird sich bitter rächen. Der Prozess wird die EU insgesamt destabilisieren. Nichts anderes will Putin.

VII.

Wie war das denn damals mit dem Anschluss der DDR an die BRD? Im Augenblick der Vereinigung erlosch das Traumbild vom Westen. Die Ostdeutschen waren zwar die DDR los, die Westdeutschen aber auch die Bonner Republik. Das Ergebnis ist in Gestalt der Berliner Republik zu besichtigen. Die penetrant beschworene „innere Einheit“ ist bis heute eine Fata Morgana. Das wird sich wiederholen, nur schlimmer, weil Westeuropäer und Ukrainer nun mal keine Brüder und Schwestern sind. Es geht jetzt nicht um „Wiedervereinigung“, sondern um eine komplizierte Adoption.

VIII.

Und was dann? Dann verliert die EU ihre Kraft und ihren Sinn. Übrig bleibt ein Chaos aus Brüssler Bürokratie und Kompetenzstreitigkeiten. Eine echte EU müsste dann von einem Teil der Mitgliedsstaaten neu gegründet werden. Das Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist das richtige Prinzip, es wird nur von den Traumtänzern in Brüssel und Berlin verdrängt. Ehe wieder einmal die ökonomische Logik politischem Wunschdenken geopfert wird, sollte sich die Europäische Union fragen: Was ist die EU – und wenn ja, wie viele?

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