Tichys Einblick
Pascal Bruckner

Der weiße Sündenbock und die Umwertung aller Werte. Eine Buchempfehlung

Pascal Bruckner hat den Braten gerochen. Hinter den westlichen Identitätsfanatikern verbirgt sich keineswegs Bußfertigkeit, sondern eine neue Form elitärer Arroganz.

Das wissen wir ja nun: Alte weiße Männer sind von Haus aus sexistisch, rassistisch und zerstören das Klima. Wer sich dagegen wehrt, ist neurechts und hat es in Deutschland schwerer als etwa in Frankreich. Dort ist die Debatte offener und keine fade Talkshowkost. Bei uns wären die prominenten Vertreter der Nouvelle Philosophie wie Bernard-Henri Lévy, Alain Finkielkraut und André Glucksmann auf dem Mainstreammedienindex. Zu dieser Gruppe zählt auch Pascal Bruckner. Sein gerade auf Deutsch erschienenes Buch „Ein nahezu perfekter Täter – Die Konstruktion des Weißen Sündenbocks“ (Edition Tiamat) attackiert die Umwertung aller Werte mit Schlüsselsätzen wie diesem: „Wenn sich Emanzipation nicht mehr von Unterdrückung unterscheiden lässt, dann ist in der Bewegung, die sich `fortschrittlich´ nennt, etwas faul.“

I.

Zwar vermeiden auch in Frankreich linke „Aktivisten” Kritik am Islam. Doch wird der Kampf im laizistischen Frankreich wesentlich ernster genommen als hierzulande. Es ist beschämend, dass sich die Bundesregierung – und da ist von der Ampelkoalition eher noch Bescheideneres zu erwarten – mit beharrlicher Blindheit dagegen sperrt, den Kampf entschlossen aufzunehmen. Sie verweigert sich einer europäischen Allianz, die mehrere europäische Länder initiiert haben, darunter neben Frankreich auch Dänemark und Österreich. Die Teilnahme an einer diesem Zweck dienenden Konferenz zog Berlin zurück.

II.

Aber die Haltung gegenüber dem Islam ist nur ein Feld des Kulturkampfs. Frankreichs Präsident hat jetzt offenbar auch den Kampf gegen die Woke-Kultur aufgenommen – natürlich auch aus Angst vor einem Sieg der Rechten bei den kommenden Wahlen. Aber immerhin. Die CDU dagegen hat sich bestenfalls weggeduckt von dem Genderwahn und den völlig überdrehten Rassismus- und Kolonialismusdebatten. Die bürgerlichen Parteien stellen sich hierzulande der Umwertung der Werte nicht entschieden entgegen. Bruckners Buch sei ihnen als Pflichtlektüre empfohlen.

III.

Er schlägt thematisch einen großen Bogen. Geht es ihm doch um nicht weniger als um eine neue Rangordnung. An der Spitze steht der nicht weiße, nicht heterosexuelle, nicht männliche Mensch. Ihm wird generell eine moralische Überlegenheit zugebilligt. Die Werte der Freiheit und Vernunft gelten nicht mehr, wenn es gegen den neuen Hauptfeind geht, den alten, weißen Mann. Er entpuppt sich freilich oft als Selbsthass. Das haben Antirassismus, Antikolonialismus und Antisexismus gemeinsam.

IV.

Nach Bruckner hat „der Konflikt der Identitäten den Klassenkampf ersetzt“. Die gegenwärtig grassierende Identitätspolitik – wie auch die Covid- und Klimapolitik – ist der Versuch, die Bevölkerung zu „einem bestimmten Verhalten zu zwingen“. Die Aufteilung der Menschheit in Gut und Böse, Täter und Opfer verursacht die tiefste Spaltung der westlichen Gesellschaften. Dabei geht es um nichts anderes als die Umverteilung der Macht innerhalb der Eliten. Nicht Leistung und Werk sollen Vorrang haben, sondern allein die Identität des Künstlers/Wissenschaftlers/Politikers etc. Wehe, eine Weiße übersetzt das Gedicht einer Schwarzen oder verkleidet sich im Fasching gar als Indianerhäuptling:in! Diese Abschottung der Kulturen ist jedoch das Gegenteil des erwünschten Miteinanders. Denn Rasse ist nicht verhandelbar, die Grenze zwischen den Hautfarben nicht änderbar. Genau dies aber ist Rassismus. Es ist in dieser Hinsicht nicht zu übersehen, dass die linken Marktschreier den Rechten von gestern gleichen. Dem setzt Bruckner entgegen: „Die Welt braucht das Desinteresse an der Hautfarbe als ethnischen Horizont.“

V.

Wir kleben – Beispiel MeToo – „in einer seltsamen Epoche, in der bereits die Verteidigung des Rechtsstaats den Vorwurf der Mittäterschaft nach sich ziehen kann“. Wer auf Geschlechtsunterschieden beharrt, wird schnell als transphob beschimpft. Und selbst wer klassische Musik liebt, liebt selbstredend weiße, also rassistische Musik. Es ist die absurde Dekonstruktion der Normalität. Diese Mechanismen greifen auch bei der Säuberung der Sprache, der Geschichte und überhaupt der Hochkultur. Im Übrigen werden „Kolonialismus“ und „Rassismus“ durch inflationären Gebrauch dieser Begriffe entwertet und die wahren Verbrechen damit relativiert. Freilich droht der Postkolonialismus dieser Art „länger anzuhalten als die Kolonialzeit“.

VI.

Gecancelt wird Bildung. Denn sie schadet im Krieg gegen eine komplexe, unsichere Welt. Wissen, vor allem historisches Wissen stört: Deshalb wird etwa der afrikanische und islamische Sklavenhandel ignoriert. Es macht sich längst auch Rassismus gegen die Weißen breit: „Einzig die Weißen darf man heute noch mit Füßen treten, ohne nennenswerte Nachteile befürchten zu müssen.“ Es verbreitet sich der Glauben, Rassismus gehöre „zur Natur des Weißen“. Damit kann er aber auch nicht überwunden werden. Am besten, der Weiße verschwindet von der Erde.

V.

Bruckner hat den Braten gerochen. Hinter den westlichen Identitätsfanatikern verbirgt sich keineswegs Bußfertigkeit, sondern eine neue Form elitärer Arroganz. „Die ostentative Verachtung der eigenen Kultur ist ein weiteres Mittel, die Überlegenheit zu wahren“ – eben die moralische – und damit den Anspruch, die Welt nach den eigenen Misstönen tanzen zu lassen. Und statt die wirklich Benachteiligten aus den Fesseln ihrer Herkunft zu befreien, werden sie von den linken Identitätsextremisten an ihre Herkunft gefesselt. Und noch ein Paradox: Indem linke Intellektuelle „Europa auf die Anklagebank zerren, befördern sie es ungewollt wieder ins Zentrum“. Nur: Wenn es ein Kontinent des Unrechts und der Gewalt ist, warum will dann die halbe Welt hierher?

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