Tichys Einblick
Angela Pilatus Merkel

Das Maß an Verlogenheit

Weder die Kanzlerin noch ihre Regierung und Partei hatten der Blauäugigkeit des SPD-Bürgermeisters und amtierenden Sündenbocks Scholz widersprochen. Im Gegenteil: Sie hatten ihr applaudiert. Nun schreien sie: Haltet den Dieb!

Noch immer bestimmen Chaoten das Bild der deutschen Politik. Die Chaoten im Schanzenviertel müssen keinen einzigen Stein mehr werfen. Wie ein Katalysator, der einen chemischen Prozess herbeiführt, ohne sich dabei selbst zu verändern, lassen sie nun andere miteinander reagieren. Es stinkt, qualmt und brodelt.

I.

Es ist keine Kleinigkeit, dass Reportern die zunächst erteilte Akkreditierung in Hamburg wieder entzogen worden ist. Es zeigt nur: Ging es um den Schutz der Gipfelpolitiker, war den Behörden keine Vorsichtsmaßnahme zu lächerlich, kein Verstoß gegen die Pressefreiheit zu billig. Im Zweifel für die Sicherheit! Ja, hätte das nur auch außerhalb der Hochsicherheitszone gegolten, dort wo die Gewalt tatsächlich vorhersehbar war. Unverhältnismäßig rigoros war der Sicherheitsapparat nur in der Nähe der Mächtigen, unverhältnismäßig inkompetent und blauäugig in der Stadt. Schikaniert wurden harmlose Reporter und abertausende Bewohner und Verkehrsteilnehmer. Und Steffen Seiberts Wort: Pressefreiheit sei für ihn ein „hohes Gut“ wäre glaubwürdiger, nähme die Regierung, für die er spricht, Meinungsfreiheit wirklich ernst. Das neue Netzzensurgesetz spricht eine andere Sprache.

II.

Am simpelsten ist jetzt natürlich die Forderung nach Schließung der Roten Flora. Richtig: Rechtsfreie Räume darf es nicht geben. Dennoch ist es wohlfeiles Law-and-Order-Geschwätz. Seit 1989 wurde diese Einrichtung unter SPD- wie CDU-Bürgermeistern toleriert, geschützt und aufgewertet zur Touristenattraktion. Linksextremismus  wurde als Folklore verkauft. Tatsächlich spricht gerade jetzt wenig für ein Verbot. Es wäre besser, die Gefährder nicht aus den Augen zu verlieren, also zu wissen, wo sie sich herumtreiben. Man müsste allerdings genauer hinschauen als bisher. Aber der linke Extremismus wurde von der Merkel-Regierung absichtlich ausgeblendet. Der Feind der Demokratie stand ausschließlich rechts. Alles irgendwie Linke zählte zur großen Familie der Weltverbesserer. Da musste man schon das eine oder andere Auge zudrücken. Alle Kräfte und alle Mittel mussten gegen „Rechts“ gebündelt werden.

III.

Weder die Kanzlerin noch ihre Regierung und Partei hatten der Blauäugigkeit des SPD-Bürgermeisters und amtierenden Sündenbocks Scholz widersprochen. Im Gegenteil: Sie hatten ihr applaudiert. Nun schreien sie: Haltet den Dieb! Es ist aber auch der Weltrettungssmodus dieser Kanzlerin, der seit Jahren blind macht für linke Ideologien und linksextremistische Kräfte. Die Moral stand vermeintlich links. Alles, was nicht links war, war unmoralisch. Es sind die verlorenen Maßstäbe, die den Exzessen gesellschaftlich den Boden bereitet haben. Zwischen Islam und Islamismus, glaubte man, müsse zwingend unterschieden werden, zwischen Kapitalismuskritik und linker Militanz ebenfalls. Nur rechtskonservativ und rechtsextremistisch gelten als nahezu identisch. Sollte sich das jetzt ändern, hätte der Hamburger Gipfel doch noch sein Gutes.

Doch wer profitiert gerade von den Chaostagen am meisten? Richtig, der islamische Extremismus. Für den ist gerade keine Platz auf den überforderten Festplatten der herrschenden Parteien. Schließlich hat es keinen einzigen islamistisch motivierten Terroranschlag in Hamburg gegeben. Wer sagt denn, dass das Sicherheitskonzept nicht erfolgreich gewesen ist?

IV.

Die Kanzlerin sagt, sie sei sich sicher, dass die Große Koalition bis zur Wahl halten werde. Soll das ein Witz sein? Die Koalition zerbrach endgültig in der Hamburger Chaosnacht. Und zuvor schon hatte die Kanzlerin mit ihrer allergnädigsten Erlaubnis ausnahmsweiser Gewissensfreiheit dafür gesorgt, dass im Bundestag eine rot-rot-grüne Mehrheit einstimmig und von jedem Gewissen befreit, Fakten schaffen konnte.
Das politische Ergebnis des bunten Abends in Hamburg spielt nun der Kanzlerin abermals in die Karten: Hoffnungsträger Scholz wird Hoffnungsträger Schulz nicht mehr folgen können. Die Kanzlerin genießt ihren hohen Vorsprung in „Sicherheitskompetenz“. Sie wollte ja nur spielen. Sich aufspielen. Oder wie es Vizekanzler Gabriel formulierte: „ihr Image aufpolieren“. Wäre man Zyniker, würde man die (zweifellos abwegige) Vorstellung genießen, Kampftruppen der Jungen Union hätten sich am Schwarzen Block beteiligt.

Die achselzuckende Nonchalance, mit der sich jetzt die Kanzlerin vor jeder Mitverantwortung drückt ist, vorsichtig ausgedrückt, widerwärtig. Verständlich, dass dem Vizekanzler der Kragen platzt und er nicht akzeptieren will, dass nur SPD-Politiker die Suppe auslöffeln sollen. Dies wäre in der Tat „ein nie gekanntes Maß an Verlogenheit.“