Tichys Einblick
Herles fällt auf

Anmerkungen über die Briten

Die Briten bestrafen die Arroganz der Macht. Erst die Brüsseler, dann die Londoner Arroganz. In Deutschland dagegen wird die Arroganz der Macht als Stärke verehrt.

Die spinnen, die Briten? Nein, nein, ich bewundere sie. Die Briten haben ihrer Pfarrerstochter im falschen Amt die Quittung ausgestellt. Von wegen „gelähmtes Land“. Von wegen „gespaltene Gesellschaft“. Allen scheinheiligen Mitleidsbekundungen aus deutschen Mündern und Federn zum Trotz: Britannien lebt und versteht nach wie vor mehr von Demokratie. Es dämmert nicht in der konsensdemokratischen Palliativstation vor sich hin, betreut und kindisch behandelt von Schwester Angela. Auch deshalb wird uns Britannien fehlen. Wenn es uns denn fehlen wird.

I.

Die Premierministerin hat sich die Niederlage selbst eingebrockt. Sie hätte ohne Neuwahlen noch drei Jahre regieren können. Sie hätte regieren können, statt hohle Kraftmeierei zu zelebrieren. Ihre Sprüche („Brexit is Brexit“, „strong and stable“) haben nicht verfangen. In Großbritannien werden Politiker noch beim Wort genommen. Bei uns kommen Pfarrerstöchter mit Floskeln wie „Wir schaffen das“ durch. Oder neuerdings mit: „Die Zeiten … sind ein Stück vorbei.“ Ach, wären sie das nur.

II.

Merkel: “Und deshalb kann ich nur sagen: Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.“ Vielleicht so, wie die Briten es getan haben. Sie haben die Arroganz der Macht bestraft. Erst die Brüsseler, dann die Londoner Arroganz. In Deutschland dagegen wird die Arroganz der Macht als Stärke verehrt. Und die Angst vor Veränderungen, ob in Brüssel oder Berlin, ist schon pathologisch, was immer den Regierenden nützt.

III.

Die „rechtspopulistische“ UKIP wurde zermalmt. Und siehe da: Die meisten „Rechtspopulisten“ wanderten zur „linken“ Labour-Party statt zu den „rechten“ Konservativen. Das Stereotyp stimmt in keiner westlichen Demokratie mehr. Nur in Deutschland ist es noch Dogma. Die Wähler haben gegen May gestimmt, nicht unbedingt für den linken Corbyn. Aber Corbyn hat seinen Schrecken nicht verloren, weil er stramm linke Positionen vertreten, sondern weil er eine klar erkennbare Alternative geboten hat. Als Person. Was könnte die SPD daraus lernen? Zum Beispiel, dass es sich lohnt, Wahlkampf zu führen, der diesen Namen verdient. Die SPD bräuchte ein paar Angebote, die erkennbar anders schmecken als das Merkel’sche Conveniance-Food. Und zwar auf den zentralen Feldern: Europas Zukunft, Euro, Einwanderung, Sicherheit. Und einen Kandidaten mit Konturen bräuchte die SPD auch,.

IV.

Vor allem die jungen Nichtwähler haben die Wahl entschieden. So schnell können die Verhältnisse aufbrechen, wenn die größte Partei, die der Politikverächter aufwacht und sich aktiv einmischt. Nichts ist endgültig, solange die Wähler von ihrem Recht Gebrauch machen. Brexit is in trouble. Ob gut oder schlecht für die EU, wird sich erst noch herausstellen. Aber das Spiel beginnt von vorn. Sogar eine zweite Abstimmung ist denkbar, falls die Verhandlungen nicht zu einem vernünftigen Ausgleich der Interessen führen. Nicht nur Europas Wirtschaft braucht die britische Demokratie, Europas Demokratie braucht sie.

V.

Alle Abgeordneten in Großbritannien sind direkt gewählt, nicht als Funktionäre ihrer Parteien zum Unterhaus nominiert. Mays erklärte Absicht, durch eine übergroße Mehrheit im Parlament die Gegner in den eigenen Reihen zu entwaffnen, ging nach hinten los. Demokratie funktioniert nur, wenn sie auch innerhalb der Parteien funktioniert. Dazu bedarf es direkter Mandate. Auch dies könnten wir von der sehr viel älteren Demokratie im Vereinigten Königreich lernen.

VI.

Und schließlich, nach gebannt durchwachter Nacht mit der BBC: So eine gute Wahlsendung habe ich bei uns noch nicht gesehen. Das behauptet einer, der ein paar Jahre lang der für Wahlsendungen im ZDF verantwortliche Redaktionsleiter gewesen ist. Diese heitere Souveränität auf einer achtstündigen, dennoch niemals ermüdenden oder gar langweiligen Strecke! Weniger gestanzte Sätze als bei uns, viel mehr Stimmen unterschiedlichster Art. Die Fähigkeit zu Ironie als Tonart, vor allem auch zu Selbstironie. Nichts war perfekt, viele Pannen. Na und! Der Anchorman, ein Kollege deutlich jenseits der bei uns eisernen Pensionsgrenze: von herrlicher Souveränität, trotz, ja beinahe möchte man sagen, dank einer gewissen Schusseligkeit. Da lässt sich einer keinen Gedanken verbieten, da hat einer vor nichts Angst, kommt wie alle seine Kollegen ohne Karteikartenstalinismus aus. Die Interviews waren durch die Bank knappe, offene Wortwechsel. Das Wahlsystem erfordert auch extreme Kleinteiligkeit in der Berichterstattung, ein unfassbar flexibles Hin und Her zwischen zahllosen Schauplätzen. Aber anders als bei uns gerät das alles nicht zum steifen, staatstragenden Ritual, sondern zu einem Betriebsfest der Demokratie.