Tichys Einblick
Helds Ausblick 7-2021

Von der Unabhängigkeit zur Selbstverantwortung

Im Zuge der Globalisierung schien alles überall machbar. Nach dem Afghanistan-Schock ist klar, dass Entwicklung nur möglich ist, wenn sie von den inneren Kräften eines Landes getragen wird.

Major General Chris Donahue geht als letzter US-Soldat in Afghanistan an Bord einer C-17-Maschine

IMAGO / UPI Photo

In Afghanistan hat die Globalisierung einen Krieg verloren. Denn um nichts anderes handelt es sich, wenn innerhalb weniger Wochen und Tage eine Ordnung zusammenbricht, die über 20 Jahr hin mit hohem materiellen und kulturellen Aufwand von einer Allianz westlicher Staaten – im festen Glauben, etwas Kluges und Gutes zu tun – aufgebaut worden war. Dieser Zusammenbruch, die eine Kapitulation ohne größeren Widerstand war, hat offenbart, wie trügerisch das Gebilde war, das im Zuge eines internationalen „nation building“ entstanden war. Eigentlich müsste dieser Vorgang eine politische Auseinandersetzung über die Grundlagen der heutigen Entwicklungspolitik zur Folge haben. Denn hier hat offenbar eine längere Fehlentwicklung stattgefunden, und zwar eine innere Fehlentwicklung in Afghanistan, die nicht nur bestimmte politische Eliten betrifft, sondern tiefer in die Gesellschaft reicht. Sie betrifft auch das Wirtschaftsleben und die ganze Daseinsweise der Bevölkerung. Es liegt also eine Krise in der zivilisatorischen und institutionellen Entwicklung vor. Diese Krise ist kein afghanischer Sonderfall. Sie ist in dem Kreis der Länder, die im 20. Jahrhundert ihre politische Unabhängigkeit erkämpft haben, häufiger anzutreffen. Aber sie ist in der „Dritten Welt“ auch nicht der Regelfall, sondern es gibt viele Länder und ganze Weltregionen, die ihre Entwicklung besser gemeistert haben.

Deshalb führt auch die pauschale Schuldzuweisung, die verheerende Entwicklung Afghanistans sei ein Erbe des Kolonialismus und würde durch die erzwungene Beendigung der Intervention gelöst, in die Irre. Die Schuldzuweisung lenkt von den inneren Ursachen ab. Sie will nicht der historischen Tatsache ins Auge sehen, dass die gewonnene politische Unabhängigkeit in vielen Ländern der „Dritten Welt“ zunächst Kräfte freigesetzt hat, die gar kein Verhältnis zu den Realitäten dieser Länder haben. Und die deshalb den Schritt von der Unabhängigkeit zur Selbstverantwortung noch gar nicht getan haben. Deshalb besteht die grundlegende Aufgabe der internationalen Beziehungen in dieser Situation darin, die Unabhängigkeit dieser Länder ernst zu nehmen und sie auf den historischen Schritt zur sozialen Selbstverantwortung zu verweisen.

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Ein völlig unverhältnismäßiges Wachstum der Bevölkerung – Ein Phänomen macht diese innere Problematik eigentlich unübersehbar: das rasante Bevölkerungswachstum, dass in den Krisenländern nach der Unabhängigkeit eingesetzt hat, und das völlig entkoppelt vom Stand der Wirtschaft, der Produktivität, der Infrastrukturen und der sozialen Institutionen – insbesondere der Geschlechterrollen und der Familienstrukturen – geschah. Dies Wachstum ist zur Hypothek für viele der jungen Staaten geworden, insbesondere in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten. Aber auch in einzelnen Ländern Süd- und Ostasiens und in Sud- und Mittelamerika ist das der Fall. So konnte die positive Errungenschaft der Unabhängigkeit gar nicht ihre Früchte tragen. Das rasante Bevölkerungswachstum führte aber auch zur Auflösung älterer sozialer Bindungen und Zusammenhänge. Ausländische Beobachter sprechen häufig und oft nicht ohne Bewunderung von der „unglaublich jungen Bevölkerung in den Straßen der Großstädte“ (die Altersgruppen unter 25 Jahren stellen die Mehrheit der Bevölkerung). Aber sie erkennen nicht, dass es sich um eine entwurzelte, fragmentierte Bevölkerung handelt, die (vorschnell) das Land verlässt, ohne städtische Arbeitsmärkte, Wohnungsmärkte und Möglichkeiten zur Familiengründung zu haben. So gleichen die Großstädte eher großen Sammellagern einer Passivbevölkerung, und entsprechen überhaupt nicht dem Vorbild einer bürgerlichen urbanen Aktivgesellschaft, das Europäer vor Augen haben. Diese Bildung einer entwurzelten Passivbevölkerung in den Städten und die Verödung des Landes durch den Exodus in die Städte hat dazu geführt, dass die säkularen politischen Eliten, die in den Unabhängigkeitsbewegungen noch die Führung hat und zunächst über lange Jahre die Regierung stellten, durch islamistische Kräfte ersetzt wurde. Aber es ist durchaus möglich, dass die Bevölkerungsdynamik auch die islamistischen Regime überfordert – ohne dass deren Scheitern schon automatisch eine Wende zum Besseren bringen würde.

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Von der Unabhängigkeit zur Selbstverantwortung – Es ist schwer zu sagen, auf welchem Weg und in welchen Zeiträumen diese Entwicklungskrise überwunden wird. Aber einige Eckpunkte lassen sich schon markieren:

  • Die Bedeutung der eindeutigen Zuordnung von Verantwortung. Verantwortliche Einheiten mit eindeutigen Verfügungsrechten und Haftbarkeiten muss es sowohl auf der Ebene einer gesamten Nation als auch auf der lokalen Ebene und auf der familiären Ebene geben.
  • Die Bedeutung der ländlichen Regionen und der Landwirtschaft.
  • Die Bedeutung größerer territorialer Märkte (Produkte, Arbeitskräfte), elementarer Infrastrukturen (Verkehrssysteme, Wasserversorgung, Schulwesen) und niedrigschwelliger Industrien.
  • Die Bedeutung eines rudimentären, flächendeckenden Sicherheits- und Rechtsstaates
  • Die Bedeutung einer weltbezogenen Orientierung, damit das „eigene Land“ (und nicht personale Herrschaft und Stammesverbände) überhaupt als Schlüsselgröße erscheinen kann.

Es kommt also darauf an, die Ära der Neuzeit für die Entwicklungsländer elementarer zu sehen, und für sie eine eigene historische Etappe mit eigenen Normen zu akzeptieren, statt sie an einem globalen Einheitskanon zu messen, der de facto nur der Kanon der weiter entwickelten Länder ist. Man muss sich auch darauf einstellen, dass viele Entwicklungsländer – insbesondere angesichts der Bevölkerungsentwicklung – vor einer Phase sehr langsamer Fortschritte mit langen Durststrecken und schmerzhaften Rückschlägen stehen. Diese Entwicklungsetappe wird in mancher Hinsicht auch tragische Züge haben. In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, in die eigene Realgeschichte Europas und der westlichen Welt zu schauen. Was geschah in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit, vor den großen sozialen und politischen Umwälzungen?

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Globalisierungs-Glaube statt Entwicklungs-Forschung – Noch bis in die 1990er Jahre gab es eine durchaus offene, wissenschaftliche Entwicklungsdebatte, die sich auf die Unterschiede zwischen Nationen bezog. Hier stellte man die Frage, warum der Durchbruch zu einer modernen Ordnung in Europa stattfand, und nicht anderswo. Welche Voraussetzungen spielten dabei eine Rolle? In Bezug auf Entwicklungs- und Schwellenländer wurde gefragt, warum bestimmte Nationen erfolgreich sind und andere weniger. Und warum manche Nationen sogar scheitern. Es ging also um die nationale Frage. Bei dieser Frage ging es nicht um irgendein naturgegebenes „Wesen“ von Völkern, sondern um zivilisatorische und institutionelle Sachverhalte. Und nicht um Biologie („Rassen“), sondern um geschichtliche Tatsachen. Nur als Beispiele seien hier einige Werke angeführt: D.C.North/R.P.Thomas (1973), The Rise of the Western World; D.C. North (1988), Theorie des institutionellen Wandels; D. Landes (1998), Wohlstand und Armut der Nationen; D. Acemoglu/J.A.Robinson (2012), Warum Nationen scheitern.
Doch diese konkrete Entwicklungsforschung ist seit geraumer Zeit vom Weltbild der Globalisierung verdrängt worden. Gab es Probleme, so musste es sich um Fehler im globalen System handeln. Ihre Lösung wurde daher immer auf ein globales Spielfeld verlegt, das nur Gesamtlösungen oder gar nichts erlaubt (die „eine Welt“). Alles war nun „Weltinnenpolitik“. So wurde jeder selbstkritische Lernprozess im Innern eines Entwicklungs- oder Schwellenlandes schon im Ansatz zerstört. Souveränität wurde entwertet.

Doch verweist gerade das Bevölkerungsproblem auf die innere Ordnung der Entwicklungsländer. Für eine effiziente Verantwortung der Folgen des eigenen Handelns ist die globale Ebene viel zu weitläufig. Zu leicht verlieren sich die Spuren der eigenen Entscheidungen. Hingegen ist schon viel gewonnen, wenn es beim Handeln und Entscheiden der Familien einen Bezug zur Lage der Nation und zu ihren Sozialsystemen gibt. Ein Wille zur Anpassung an knappe Mittel kann sich nur bilden, wenn eine Gesellschaft gemeinsame Schicksalsfragen wahrnehmen kann. Nur so – aus der Unausweichlichkeit einer Real-Situation und nicht bloß durch einen pädagogischen Appell von außen – kann Selbstverantwortung erwachsen.

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Die Alibi-Debatte über „Kolonialismus“ und „Rassismus“ – Vor diesem Hintergrund wird deutlich, welche katastrophale Blindheit in jenen westlichen akademischen Kreisen ausgebrochen ist, die heute die Diskussion über die Entwicklungsprobleme des Südens als Diskussion über „Kolonialismus“ und „Rassismus“ führen wollen. Als hätte es kein 20.Jahrhundert gegeben, in dem die Kämpfe um nationale Unabhängigkeit in der Dritten Welt erfolgreich waren. Die aktuellen Probleme sind ja aufgetreten, nachdem die Länder unabhängig geworden sind. Eine neue, „zweite“ Abrechnung mit dem Kolonialismus bringt die Lösung dieser Probleme keinen Millimeter weiter. Es handelt sich um einen Schauprozess und eine Alibi-Veranstaltung. Man ersetzt das Entwicklungsthema, bei dem doch so vieles zu untersuchen und zu erörtern wäre, durch ein Schuld-Thema. Man fordert eine „Wiedergutmachung“, die den Blick nach außen lenkt, und von den inneren Problemen der jungen Staaten ablenkt.

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Die „große Transformation“ ist eine Luftbuchung – Seit dem Afghanistan-Schock ist erst knapp ein Monat vergangen. Aber die kritische Überprüfung des „Nation building“ und die Frage, was denn stattdessen geschehen soll, ist schon wieder von der Tagesordnung verschwunden. Die Verwaltungsroutinen der Globalpolitik, mit ihren „Geberkonferenzen“ und ihrer „Migranten-Steuerung“, haben das Feld besetzt. Mehr noch: Bei den großen „Krisen“ und „Rettungen“ (Migration, Klima, Corona) wird schon wieder eifrig globalisiert. Wieder heißt es „Globale Probleme müssen global gelöst werden“. Welch naive Gleichsetzung von Problem und Lösung. Als hätte man noch nie gehört, dass dann, wenn weit verbreitete Probleme aufwendige materielle und institutionelle Hebel der Lösung erfordern, räumlich begrenzte Einheiten notwendig sind – nur so kann der Aufwand für diese Hebel bewältigt werden. Dies Gesetz hat sich gerade wieder in Afghanistan bewahrheitet. Wo es keine eigenen verantwortungsfähigen Institutionen gibt, kann man sie nicht von außen herbeizaubern. Und wo das Bevölkerungswachstum nicht von innen eingehegt wird, verzehrt es selbst die elementarste Kapitalbildung. Die „große Transformation“ unseres Planeten ist eine Luftbuchung. Sie wird einmal als bizarre Fußnote in die Geschichte der Moderne eingehen.

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Und der „Green Deal für Afrika“? – Nun wird, durchaus mit guten Gründen, erwogen, den Militäreinsatz in Mali abzubrechen. Die Voraussetzungen vor Ort sind so prekär wie in Afghanistan. Aber gleichzeitig läuft ein EU-Programm, das prätentiöser nicht sein könnte. Die EU-Kommission hat ein Milliarden-Programm beschlossen, das nicht nur für ein einzelnes Land gilt, sondern gleich für einen ganzen Kontinent: den „Green Deal für Afrika“. Frei nach dem Motto: Wenn ich vor Ort nicht mehr weiterweiß, wähle ich einfach einen Weltenkreis. Am 17. August 2021 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Bericht von Hendrik Kafsack unter dem Titel „Afrika soll das Kohlezeitalter überspringen“. Man traut seinen Augen nicht. Während aus vielen Teilen Afrikas eine zunehmende Instabilität gemeldet wird, und es in der Energieversorgung die verschiedensten Mischsysteme gibt, und man Mühe hat, wenigstens die Zuflucht zur Holzverbrennung einzuschränken, will die EU dem Kontinent ein ganz neues Zeitalter mit einer grünen Energie-Monokultur verordnen. Mit der sogenannten „Afrika-EU-Initiative für grüne Energie“ sollen Investitionen in erneuerbare Energie gefördert werden, die „Menschen wie Unternehmen Zugang zu bezahlbarer Energie verschaffen“. Weiter heißt es in dem Bericht: „Mindeststandards sollen sicherstellen, dass in Afrika nicht mehr wie bisher Geräte mit bestenfalls zweitklassiger Energiebilanz verkauft werden.“ Die „erstklassigen“ Geräte kommen natürlich aus Europa, und das klingt nicht nach „bezahlbar“. Es muss durch EU-Subventionen in den Markt gedrückt werden. Zugleich soll ein gesamtafrikanischer „Strombinnenmarkt“ geschaffen werden, „der sich stark am EU-Strombinnenmarkt orientiert“. Wie ein so riesiges Verbundsystem stabilisiert und gesichert werden kann, ist völlig offen – man denke nur an die Schwierigkeiten, die es dort schon bei der Stromversorgung einzelner Länder gibt. So verwundert es nicht, dass der FAZ-Journalist auch von einer „Skepsis der Afrikaner“ berichtet: „Die Afrikaner sehen im europäischen Green Deal und nicht zuletzt in der geplanten CO2-Grenzabgabe durchaus so etwas wie versteckten Protektionismus.“ Die Grenzabgabe soll ja Import-Waren in die EU, die mit Energie aus fossilen Trägern hergestellt wurden, teurer machen. Die EU-Kommission bildet sich offenbar ein, sie könne Afrika ihr (bisher nur auf dem Papier existierendes) „grünes“ Energiesystem auferlegen – während sie sich gleichzeitig überall zurückzieht, wo Krieg und Bürgerkrieg drohen. Hier wird die Globalisierung zum schnöden Betrug. Und unsere „Europäer“ glauben, das würde niemand merken.