Tichys Einblick
Helds Ausblick 10-2020

Deutschland in der Corona-Sackgasse

Aus der „großen Transformation“ der Welt ist das angstvolle Zählen täglicher Corona-Infektionen geworden. Deutschland steckt in einer Sackgasse.

imago images / Shotshop

Die Sommerpause geht zu Ende. Normalerweise macht sich ein Land dann mit neuen Kräften ans Werk. Die Leute finden ihre angestammten Aufgaben und Plätze wieder. Wo es die eine oder andere Veränderung gibt, geht man das Neue mit Zuversicht an. Doch das ist nicht die Stimmung im Lande. Die Grundsicherheiten, die das Tun der Bürger bisher noch getragen haben, sind erschüttert. Das Gefühl, dass alles „auf einem guten Weg“ ist, ist fast gänzlich verschwunden. Wirtschaft, Bildung, Verkehr, öffentliches Leben – alles steht unter Vorbehalt. Ein Gefühl der Aussichtslosigkeit macht sich breit.

Das hängt nicht nur mit „Corona“ zusammen, sondern auch mit anderen „Großthemen“, die das Regieren in Deutschland bestimmen. Dabei ist es nicht so, dass wirklich ein großes Unglück über das Land hereingebrochen ist – ein wirkliches Massensterben durch eine tödliche Krankheit, eine wirkliche planetare Überhitzung, eine Atom-Katastrophe oder ein Krieg zwischen den Großmächten. Vielmehr gibt es begrenzte Probleme, die von der Politik ohne Not ins Grundsätzliche gewendet werden und dadurch zu unendlichen, im Grunde aussichtslosen Baustellen werden. Die Deutschen, die lange Zeit auf die (relative) Solidität ihres Landes vertrauen konnten, müssen feststellen, dass die Entscheidungen der Regierenden nicht zu greifbaren Resultaten zu führen.

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Die Wendung der Probleme ins Grundsätzliche entlastet nicht, sondern führt zu immer neuen Lasten. Das hängt damit zusammen, dass hier eine merkwürdige, doppelte Grundsätzlichkeit herrscht, die zu zwei Extremen führt: Auf der einen Seite werden die größten Weltgefahren beschworen – also ein negatives Extrem aufgebaut. Auf der anderen Seite werden zugleich die größten Weltumbau-Pläne entworfen und damit die Rettung vor der Gefahr ebenfalls auf eine extreme Höhe getrieben. So wird eine gespaltene Welt zwischen dem absolut Schlechten und Bösen auf der einen Seite, und dem absolut Schönen und Guten auf der anderen Seite konstruiert. Wie soll daraus eine haltbare Regierungsarbeit entstehen? Alle bisherigen Aufbauleistungen des Landes werden ja für nichtig erklärt – siehe die großen Anklagen gegen die „fossile“ Energiegrundlage und die „rassistische“ Sozialgrundlage der Neuzeit. Sie sollen Leistungen wider „die Natur“ und wider „den Menschen“ sein. Aus diesem absolut Negativen soll dann ein absolut Positives werden?

In der Realität hat diese schlechte Grundsätzlichkeit zu zerstörerischen Regierungs-Entscheidungen geführt. Man hat Normen, Auflagen und Stilllegungen gegen die Stromgewinnung aus Kohle und Kernkraft beschlossen; auch gegen Fahrzeugantriebe durch Verbrennungsmotoren. Dies hat man getan, ohne dass gleichwertige technische Alternativen zur Verfügung standen. Man hat einfach die alten Brücken verbrannt, und auf das Nichts gebaut, das schon irgendeine Lösung bringen wird. Im gleichen Zuge, in dem die inneren Entwicklungsleistungen des Westens immer negativer bewertet wurden, wurden pauschale Grenzöffnungen für Migranten beschlossen, von denen ein großer Teil nur das Merkmal der Entwurzelung mitbrachten. Und man versucht jetzt, aus der Finanznot der europäischen Länder einen europäischen „Wiederaufbau“ zu machen, dessen einziges gemeinsames Merkmal die Überschuldung der beteiligten Länder bildet.
Man sieht, wohin die negative Dialektik führt, die große Not in große Lösungen ummünzen will. Statt wirklich etwas zu bewegen, hat dies Verfahren die Grundsicherheiten zerstört, die für jedes größere, dauerhafte Werk der Bürger unentbehrlich ist.

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Alles steht unter Vorbehalt – Die Entwicklung der Corona-Krise zeigt genau diese Tendenz, ein begrenztes Problem ins Grundsätzliche zu verschieben. Die Maßnahmen zeigen einen Zickzack-Kurs, begleitet von einer ständigen volkserzieherischen Gefahrenbeschwörung. Seit Anfang 2020 ist es dabei zu einer bedeutsamen Verschiebung gekommen. Am Anfang ging es um die Bewältigung der schweren Krankheitsverläufe, um Lebensrettung durch Intensivmedizin. Die Epidemie sollte um jeden Preis gedämpft werden, um einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems zu vermeiden. Von diesem Zusammenbruch sind wir inzwischen weit entfernt. Wir wissen auch, dass es keinen engen Zusammenhang zwischen Infektionszahl und lebensgefährlichen Krankheitsverläufen gibt. Doch nun wurde die „Infektionslage“ zum Dreh- und Angelpunkt der Corona-Krise erklärt. Schon bei einem Ansteigen der Infektionen wird wieder mit einem „Close down“ bei Betrieben, Schulen, Geschäften, Gaststätten, Kultur- und Sportstätten gedroht. Oder es drohen Auflagen, die ein sinnvolles und wirtschaftliches Arbeiten nicht ermöglichen.

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Wenn die „Infektionslage“ regiert – Politik und Medien bombardieren das Publikum inzwischen täglich mit Infektionszahlen, und erwecken immer unausgesprochen den Eindruck, damit wären Entscheidungen auf Leben und Tod verbunden. So wird die gesamte Tätigkeit des Landes unter Vorbehalt gestellt. So ist die Corona-Welle zu einer Dauer-Welle geworden, die ein ständiges Warnen der Regierende erfordert, ohne dass irgendein Element sichtbar wäre, das aus der Situation hinausführen könnte. Für die Menschen ist das Hin und Her zwischen „Lockerung“ und „Schließung“ nicht mehr nachvollziehbar. Was hängen bleibt, ist der Eindruck, dass man ständig wieder mit Einschränkungen rechnen muss. Ebenso muss man damit rechnen, dass die Infektionen von Einzelnen mit generellen Kollektiv-Beschränkungen beantwortet werden. Das schafft kein Vertrauen, und damit wird jedes längerfristige Engagement der Bürger – Investitionen, Bauen, Bildung – entmutigt. Dass gilt umso mehr, weil die Menschen registrieren, dass der medizinisch-virologische Aspekt weiterhin absolut gesetzt wird, und die Schäden in der Wirtschaft (und anderen Bereichen) allenfalls als „Kollateralschaden“ registriert wird. So entsteht der Eindruck, die zunehmende wirtschaftliche Schieflage sei gar nicht so wichtig und würde schon von selbst wieder ins Lot kommen. Der eigenverantwortlich tätige Bürger würde in dieser Epidemie-Krise eigentlich gar nicht gebraucht – der Maßnahmen-Staat könne alles Notwendige selber übernehmen. Vom Bürger werde nur „Zusammenhalten“ (mit Distanz und Maske) gebraucht.

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Ein Wahrnehmungsproblem – Gewiss kann man nicht von Virologen verlangen, dass sie zugleich Wirtschaftsfachleute sind. Aber man kann verlangen, dass sie sich über den begrenzten Standpunkt ihres Fachs im Klaren sind, und dass sie deshalb die Entwicklungen in fremden Bereichen – wie der Wirtschaft – mit besonderer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen. In starken Epochen der Moderne konnte man diesen erweiterten Wahrnehmungshorizont finden, für unsere Gegenwart scheint eher das Gegenteil zu gelten. Man interessiert sich weniger für das Spezifische des Wirtschaftens und seiner Wertmaßstäbe, sondern sucht übergreifende höhere und höchste Zwecke – die dann allzu simpel „gut“ ausfallen oder nur wieder den eigenen begrenzten Standpunkt widerspiegeln. Wie konnte es geschehen, dass auf einmal ein ganzes Land nur noch im Modus „Corona-Krise“ tickt? Wie sehr muss sich die Wahrnehmungsfähigkeit einer Gesellschaft verengt haben, wenn sie so schnell unter die Dominanz virologisch-medizinischer Sichtweisen gerät? Wo das geschieht, kann das Gesamtniveau eines modernen Landes nicht mehr gehalten werden.

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Wie unsere „Großkrisen“ fabriziert wurden – Die Neigung, begrenzte Probleme ins Grundsätzliche zu steigern, kann dort gedeihen, wo die erreichte Differenzierung und Komplexität eines Landes nicht mehr erfasst und geachtet wird. Das kann man in der Corona-Krise sehen, und das lässt sich auch bei den anderen politischen „Großthemen“ der letzten Jahre und Jahrzehnte beobachten: Ein singuläres Ereignis (der Fukushima-Unfall) führte in Deutschland zum Kernenergie-Ausstieg. In der Schuldenkrise wurde die Griechenland-Rettung ohne Grund zu einer Frage von „Krieg oder Frieden“ überhöht. Angesichts des zunehmenden Einwanderungsdrucks an der Süd-Grenze Europas wurde der gesamte Süden zu einem Fluchtgebiet erklärt, in dem ein Überleben nicht mehr möglich sei. Aus einem begrenzten Klimawandel wurde eine akute Weltklimakrise gemacht, die einen Verzicht auf alle fossilen Energieträger erforderlich machen sollte – ohne Rücksicht auf deren tragende Rolle in Produktion, Verkehr und Alltagsleben.

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Und nun der „Rassismus“ – Aus der komplexen Entstehungsgeschichte der Neuzeit, bei der Europa und Nordamerika eine wesentliche Rolle spielten, will die Anti-Rassismus-Kampagne eine reine Unterdrückungs- und Ausbeutungsgeschichte machen. Man will die Namen der Personen und Nationen, die das schafften, aus Geschichtsbüchern und von Straßenschildern löschen. Damit wird überhaupt die langsame Entwicklungskraft der Geschichte aus dem Bewusstsein der Menschen getilgt – um an ihre Stelle die tägliche „Selbsterfindung“ unserer „neuen Kreativen“ zu setzen. Und die Weltgeschichte ganz neu beginnen lassen. Wer überall nur Rassismus sieht, will von realen Entwicklungsständen und -aufgaben nichts wissen.

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„Große Lösungen“ aus dem kleinen „Homeoffice“? – Zum Grundsätzlichkeits-Wahn der Gegenwart gehört nicht nur die Verneinung der Welt, sondern auch „ganz neue“ Lösungen, die sogleich zu Weltlösungen überhöht werden. Ein Beispiel dafür ist das „Home-Office“, das – angesichts der Corona-Epidemie, aber auch weit darüber hinaus – zum Grundelement einer neuen, weniger krisenanfälligen Arbeits- und Bildungsorganisation werden soll. Digitale Informations- und Kommunikationssysteme sollen dabei eine Schlüsselrolle haben. Zur Erinnerung: Das Schlüsselelement, das bisher die Geschichte der Neuzeit mit ihren wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Errungenschaften begleitet hat, war die „Präsenz“ der gegenständlichen Menschen in einer gegenständlichen Welt. Diese Präsenz war die Grundlage für die Aufwertung von Arbeit und industriellem Kapital, für eine weltbezogene Forschung und Bildung, für ein fest eingerichteten Staatswesen zur Sicherung von Gewaltmonopol, technischer Infrastruktur und Sozialleistungen. Die massenhafte Präsenz von Bürgertum und Arbeiterschaft machte auch eine wirklich repräsentative Demokratie unverzichtbar.

Allerdings ist es nicht ganz leicht, die Wirkungsweise der Präsenz zu erklären. Sie wirkt oft mit unsichtbarer Hand auf subtile Weise, und man merkt ihre Bedeutung erst, wenn sie fehlt. So stellt man jetzt, wo der Schulunterricht auf „Homeoffice“ und mediale, digitalisierte Vermittlung umgestellt wurde, fest, was dadurch alles im Bildungsprozess fehlt. So ist es kein Wunder, dass es eine heftige Diskussion über „Digitalisierung“ und „Präsenz“ gibt, nicht nur im Bildungswesen, sondern auch in der Büro- und Fabrikorganisation. Und natürlich gibt es unüberhörbare Einsprüche aus den verschiedensten kulturellen Aktivitäten – Musik, Theater, Ausstellungen, Kino, Sport, Gastronomie, Tourismus. Sie alle verweisen darauf, dass die entwickelten Präsenz-Formen kultureller Erfahrungen und Ereignisse nicht durch die medialen Reproduktionen ersetzt werden können.

Wer behauptet, die aktuelle Krise würde der Digitalisierung der Welt „definitiv“ zum Durchbruch verhelfen, verrät eine sehr naive, simple Vorstellung von der bereits gewachsenen modernen Welt. Die „großen Lösungen“, die im Namen einer ganz neuen technischen Welt vorgeschlagen werden, kommen dabei recht alten Lösungen sehr nah. Sie sind eine neo-autoritäre Kombination von „zu klein“ und „zu groß“: Das „Homeoffice“ lässt die Hausarbeit wieder aufleben und damit den „Kleinbürger“, während die Vernetzung die Tendenz hat, die meisten Fäden bei einigen wenigen Machtpositionen zusammenlaufen zu lassen. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie leicht es war, einige wenige Bestimmer als „Sender“ zu installieren, während die anderen auf das Zuhören und „Zusammenhalten“ verwiesen waren.

So bietet die aktuelle Krise auch eine Chance. Sie zwingt dazu, die Grundlagen der modernen Welt besser zu verstehen und gegen ihre leichtfertige Verabschiedung hartnäckiger zu verteidigen.

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Eine Moderne, in der es um Kontinuität geht – Das „Programm“, das hier als Ausweg anvisiert wird, ist also kein radikales Programm. Es versucht nicht, den Extremismus der „größten Krisen“ und der „größten Lösungen“, der Deutschland in die Sackgasse geführt hat, noch zu überbieten. Wenn man wieder an der gewachsenen Kontinuität der Moderne anknüpfen will, sollte man die angeblichen drohenden Katastrophen entdramatisieren. Man sollte aber auch die angeblich griffbereiten „großen Lösungen“ entdramatisieren. So umwerfend sind die vielzitierten „globalen Innovationen“ nicht. Je näher sie betrachtet werden, umso kleiner werden sie. Auch deshalb gibt es in diesem Herbst 2020 ein Gefühl der Aussichtslosigkeit und Vergeblichkeit. Die Menschen sehen das immer häufigere Versagen der Regierenden bei Alltagsaufgaben, und es regt sich der Verdacht, dass sie sich mit den falschen Dingen befassen und nicht mit den wichtigen Dingen. Nicht selten löst das Versagen Erstaunen und Erschrecken aus, wie das gegenwärtige Chaos bei den Infektionstests oder bei der Unterrichtsorganisation an den Schulen. Oft sieht man auch resigniertes Schulterzucken. Aufbruchstimmung sieht anders aus. Wir befinden uns in einer Zeit der Ernüchterung, die in Deutschland jetzt stattfindet und die längere Zeit dauern kann.

Zu dieser Ernüchterung gehört aber auch ein allgemeineres Merkmal unserer Zeit, das mit dem Verhalten der Regierung nichts zu tun hat und auch bei einem Regierungswechsel fortbestehen wird. Es hat mit dem Gang der modernen Entwicklung selber zu tun. Zur Normalität dieser Entwicklung gehört, dass der Fortschritt nicht immer mit der gleichen Geschwindigkeit vor sich geht. Es gibt Phasen, in denen es große Entdeckungen von Neuland gibt – neue,Ressourcen, neue Handlungsmöglichkeiten, neue Produktivitätsgewinne. Die Jahre des „Wirtschaftswunders“, die es in den ersten drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg in vielen Ländern gab, sind dafür ein Beispiel. Aber es gibt auch längere Phasen, in denen die Zeit solche Fortschritte nicht hergibt. In dieser Phase gibt es sind nur relativ kleine Lösungen zu haben. Das sind keine schlimmen Jahre, denn das erreichte Niveau kann ja fortgeführt werden. Allein die tägliche Wiederholung dieses Niveaus ist schon eine große Leistung. Ein Land und seine Bürger können darauf stolz sein. Sie müssen sich aber über diese Grundbedingung ihrer Zeit im Klaren sein.

Vieles spricht dafür, dass Deutschland (und viele andere Länder) sich seit einiger Zeit in einer solchen Phase der Moderne befinden. Die Produktivitätsfortschritte sind gering, viele Branchen sind in ihren Produkten und Herstellungsverfahren weit ausgereift, zum Beispiel beim Automobil mit Verbrennungsmotor. Aber das bedeutet nicht, dass die Leistungen dieses Autos deshalb weniger wertvoll und nur langweilig wären. Es kommt nur darauf an, dass sich Deutschland von falschen Erwartungen an den Gang der Welt und seine Rolle befreitet. Dazu gehört auch, dass im politischen Wettbewerb nicht immer wieder versucht wird, mit großen Aufbrüchen und Geländegewinnen zur Macht zu kommen. Die Opposition gegen den herrschenden Mainstream wird nur siegen können, wenn sie für ein anderes Selbstbild unserer Lage streitet. Wenn sie eine Kraft in der Ernüchterung dieser Nation wird. Das ist eine eigenständige, erklärende Aufgabe, die sich nicht aus der Polemik gegen die Regierung entwickeln lässt.

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