Tichys Einblick
In Deutschland ist immer "große Koalition"

Autoren und Leser von Tichys Einblick zwischen Fatalismus und Hoffnung

Richtungswechsel werden in Wahlergebnissen nachvollzogen, nicht durch Wahlen bewirkt. Das bleibt ein nervenraubend langsamer und oft gar nicht wahrnehmbarer Prozess, wie es seit Bestehen der Bundesrepublik von Anfang an so war und bei ihrer Konstruktion nicht anders sein konnte.

Pass-Deutschland

Vergangenen Sonntag schrieb Roland Tichy gleich zwei Kolumnen. Seine erste: Die islamische Republik Deutschland und ihre Mütter animierte einen Leser zu diesem Kommentar:

Man kann die Entwicklung Deutschlands gut am Ton von Herrn Tichys Texten ablesen. Mittlerweile ist er anscheinend beim Fatalismus angekommen.

Die zweite Sonntagskolumne: Schaffen CDU und SPD die Wende zur Vernunft? löste bei einem anderen Leser quasi die Fortsetzung des ersten Leserkommentars aus:

… nachdem Roland Tichy in die Abgründe des Diether Dehm und Oskar Lafontaine gesehen hat, setzt er jetzt wieder auf Merz und CDU.
Wenn jetzt noch Kubicki und Lindner treffen, wird er sich auch wieder für die Liberalen erwärmen.
Er kann eben wie Wolfgang Herles nicht aus seiner Haut …

Der Leser hätte weiter darauf hinweisen können, welche TE-Autoren welche aktuellen Vorkommnisse bei den schon länger etablierten Parteien so zu interpretieren bereit sind, dass sie auf positive Veränderungen im Parteiengefüge mit Aussichten auf nennenswerte Politik-Verbesserungen hindeuten könnten. Der Leser hätte außerdem notieren können, wie schnell auch TE-Leser solche Hoffnungsschimmer in ihren Kommentaren positiv aufnehmen. Der enttäuschte SPD-Anhänger reagiert erfreut erwartungsvoll auf eine anscheinend Politik-ändernde Bewegung von Kanzler Scholz gegen die Grünen. Vielleicht zusammen mit der Lindner-FDP? Das ruft auch enttäuschte FDP-Anhänger in der kommentierenden TE-Leserschaft erwartungsvoll angerührt auf den Plan.

Eine andere vertraute Schar von kommentierenden TE-Lesern ist gegen derartige Versuchungen immun. Sie geht unbeirrbar davon aus, dass eine wirkliche Politikänderung nur bei einer Regierungsteilnahme der AfD zu erwarten ist – vorzugsweise einer CDU-AfD-Koalition (da und dort im Osten AfD-CDU-Koalition). Der größere Teil dieser kommentierenden Leser ist von Programm und Personal der AfD überzeugt. Ein kleinerer sieht die AfD durchaus nicht gefeit gegen ihre Einvernahme durch das korrumpierende System deutscher Parteienstaat, sobald die AfD „mitmachen“ darf, erwartet sich aber nur von einer wachsenden AfD, dass überhaupt Bewegung in die Politiklandschaft kommt. – Dass eine CDU, die mit der AfD koaliert, danach noch immer dieselbe rotgrün durchwirkte CDU wäre, bleibt dabei in freudiger Erwartung von Besserem ergreifend ausgeblendet.

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Zwischen Roland Tichys fatalistisch anmutendem Blick in den Abgrund der „islamischen Republik Deutschland“ und seinen eigenen Hoffnungen auf Bewegungen in der deutschen Politiklandschaft wie den gleichen Hoffnungen von TE-Autoren und kommentierenden TE-Lesern klafft eine bemerkenswerte Kluft. Sie ist in ihrem Widerspruch zwischen Fatalismus und Hoffnung für die Bundesrepublikaner höchst repräsentativ.

Auf einen Aspekt ging Tichy im gestrigen TE-Wecker ein, wenn er auf Gewohnheit als häufigen Grund des Wahlverhaltens vor allem bei den Älteren und das besonders im Westen hinwies. Dass die Leute zur Wahl gehen und dann doch wieder ihre alten Parteien wählen, obwohl sie mit deren Politik ganz überwiegend längst nicht mehr einverstanden sind, steckt den Widerspruch zwischen Fatalismus und Hoffnung in Stimmzettel gefaltet in die Wahlurnen. Diesem fatalen Vorgang durch ihre Teilnahme an Wahlen nicht mehr Legitimität verschaffen zu wollen, ist das Motiv vieler Nichtwähler.

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Im politischen Unterricht, bei der Bundeszentrale für politische Bildung und in den politosoziologischen Studiengängen lernen die Leute, dass Richtungsänderungen in der Politik durch Wahlergebnisse – indirekt die Wahl von Regierungen – herbeigeführt werden. Dass dies der deutschen Wirklichkeit nicht entspricht, erfahren selbst politisch Interessierte nur in wenigen Ausnahmefällen. Kein Wunder, wo doch praktisch alle Mitglieder des politmedialen Komplexes und die von ihm steuerfinanziert organisierte „Ziviligesellschaft“ die Bilderbuchwelt von deutscher parlamentarischer Demokratie nicht nur predigen, sondern selbst glauben.

Bei dem, was sich in der deutschen Politikwirklichkeit bewegen kann, wird eine Ebene chronisch vernachlässigt. Das Grundgesetz hat die Institutionen der Bundesrepublik so miteinander verwoben, dass jede bedeutende Politikänderung nur von einer unausgesprochen permanent herrschenden „großen Koalition“ getroffen wurde und nur von ihr getroffen werden kann, egal welche Farben die formalen bestehenden Koalitionen trugen und tragen. Adenauer brauchte für die Wiederbewaffnung die SPD. Diese bekam den Wechsel von der kapitalgedeckten zur umlagefinanzierten Rente nur mit Adenauer zustande. Und so ging es immer weiter. Dass alles von Bedeutung nicht nur durch den Bundestag muss, sondern auch durch den Bundesrat, ist die institutionalisierte „große Koalition“. Dass in dieser oft gar nicht die Parteien den Ausschlag geben, sondern die Gewerkschaften von Kapital und Arbeit und andere starke Interessengruppen – wie in neueren Zeiten NGOs, die in Wahrheit steuerfinanzierte Zeitgeistorganisationen sind.

Und heute können die 14,8-%-Grünen als Zeitgeist-Träger die Richtung der jetzt real existierenden „großen Koalition“ des politmedialen Komplexes nur deshalb bestimmen, weil CDSUSPDFDP demselben in einer neuen „Nationalen Front“ angehören.

Diese „Nationale Front“ gründet auf zwei deutsche Eigenschaften, die der Freiheit der Bürger diametral entgegenstehen: dem unbedingten Glauben an den Staat und noch dazu an den Zentralstaat. Weshalb die deutsche Geschichte nie eine Auseinandersetzung zwischen „Freiheit oder Sozialismus“ war, sondern immer nur eine zwischen unterschiedlichen Erscheinungsformen von Sozialismus.

Bei Freiheit und Sozialismus fällt mir immer der russische Anarchist Michail Bakunin ein, der einst schrieb: Freiheit ohne Sozialismus ist Privilegium und Ungerechtigkeit. Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität.

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Folge ich nun Tichys Fatalismus oder seiner und anderer Hoffnung auf tatsächliche Bewegung in der deutschen Politik? Dass diese Bewegung in Gang kommt, längst stattfindet, daran zweifle ich nicht. Sie vollzieht sich nur anders als in der Bilderbuchwelt von deutscher parlamentarischer Demokratie.

Zu neuen Koalitions-Konstellationen kommt es natürlich. Die „Brandmauer“ fällt, wenn Berufspolitikerkarrieren anders nicht fortgesetzt werden können. Andere Koalitionen sind allerdings nicht der Hebel, sondern die Anpassungen an den sich abschwächenden und dann drehenden Zeitgeist innerhalb von Parteien, Medien und so weiter im Gesamtgefüge der stets herrschenden „großen Koalition“. Richtungsänderungen kommen nicht durch Koalitionswechsel zustande, Veränderungen in der Parteienlandschaft und von Wahlergebnissen bewirken Änderungen innerhalb des politmedialen Gefüges. Richtungswechsel werden in Wahlergebnissen nachvollzogen, nicht bewirkt. Das bleibt ein nervenraubend langsamer und oft gar nicht wahrnehmbarer Prozess, wie es seit Bestehen der Bundesrepublik von Anfang an so war und bei ihrer Konstruktion nicht anders sein konnte: mit der einzigen Ausnahme der wenigen Jahre, in denen Ludwig Erhard mit US-Lizenz die „Soziale Marktwirtschaft“ installierte, die er selbst lieber Marktwirtschaft genannt hätte.

Autoren und Leser werden auf Tichys Einblick weiter zwischen Fatalismus und Hoffnung schreiben und kommentieren. Das sind wichtige und notwendige Beiträge zum Prozess der Veränderung, bei welcher der Bundesrepublik andere Länder und ihre Gesellschaften vorausgehen und die Entwicklung hierzulande mehr prägen werden als die Bundesrepublik und der Rest ihrer freien Gesellschaft selbst.

War das nicht schon immer Weg und Schicksal der Deutschen?

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