Tichys Einblick
Interview

Sebastian Kurz: „Der Türkei-Deal nur ein Plan B“

Sebastian Kurz, 30, ist der Polit-Star Österreichs mit Ausstrahlung nach Berlin und Brüssel. Der Außenminister sagt, was viele denken und wovor die deutsche Politik zurückschreckt. Europa braucht Grenzen, Frontex darf kein Ticket über's Mittelmeer sein.

Eine gekürzte Fassung des Interviews mit Österreichs Außen- und Integrationsminister, die Langfassung in der gedruckten Monatsausgabe von Tichys Einblick.

Fritz Goergen: Wie hat sich die Rolle Österreichs in der EU durch das Zusammenwirken mit anderen zur Schließung der Balkanroute verändert? Stimmt das Bild von einem lockeren Habsburger Bund, einer Zusammenarbeit der mittel- und südosteuropäischen Länder – allerdings ohne Österreich?

Sebastian Kurz: Für eine Zeitlang waren wir von vielen Seiten harter Kritik ausgesetzt, als wir mit Nachdruck dafür eintraten, dass die Westbalkanroute für unkontrollierte irreguläre Migrationsströme geschlossen wird. Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass die Schließung der Balkanroute ein ganz wichtiger Schritt am Weg zur Bewältigung der Flüchtlingskrise war. Unsere langjährige Zusammenarbeit mit den Ländern am Westbalkan hat uns geholfen, gemeinsam rasch zu handeln und diese Kooperation zwischen EU- und Nicht-EU-Ländern schnell umzusetzen.

Das Bild eines Habsburger Bundes trifft meines Erachtens nicht zu. Der gemeinsame Rahmen für unsere Zusammenarbeit ist heute die EU, und zu vielen Themen gibt es eben durch geografische Nachbarschaft oder inhaltliche Nähe geprägte Varianten in der Kooperation, an denen sich auch Österreich, je nach Interessenlage, beteiligt.

Goergen: Was hat den Strom nach Europa dieses Jahr mehr eingedämmt, Schliessung der Balkanroute oder der EU-Türkei Pakt? Rückt die Sichtweise von Österreich und der Visegrád-Gruppe näher in letzter Zeit?

Kurz: Die Schließung der Balkanroute führte nach Einschätzung der Grenzschutzagentur FRONTEX „umgehend“ zum Rückgang der Flüchtlingszahlen: 2015 waren es über 90.000 Menschen, 2016 bisher „nur“ rund 35.000 neue Anträge auf Asyl. Beim Türkei-Deal war ich immer schon der Meinung, dass es nur ein Plan B sein kann – diese Einschätzung bewahrheitet sich nach den letzten Ereignissen in der Türkei immer mehr. Plan A muss ein starkes Europa sein, das Außengrenzen selbst schützt und in Hilfe vor Ort investiert, um den Migrationsdruck nach Europa zu lindern.

Goergen: „Grenzen kann man nicht schützen“, ist das Mantra der deutschen Bundeskanzlerin. Kann Österreich am Brenner und Ungarn, was Deutschland nicht kann? Warum werden am Brenner und auch an der Grenze zu Ungarn Barrieren gebaut? Traut Ihr der Schengen-Aussengreze immer noch nicht, hier in einem Fall sogar der Fähigkeit Ungarns, eine hypothetische Welle zu halten?

Kurz: Ein Europa ohne Grenzen nach innen ist nur möglich, wenn die Außengrenzen geschützt werden – solange das nicht der Fall ist, müssen wir nach innen kontrollieren. Ein Szenario wie 2015 darf sich an den österreichischen Grenzen nicht wiederholen. Wenn nämlich jeden Tag Menschen weitergewinkt werden, dann haben wir keine andere Wahl als Grenzkontrollen einzuführen, wie es andere Länder wie Deutschland ja schon zuvor gemacht haben. Das Ziel muss es aber überhaupt sein, zu verhindern, dass sich so viele Menschen überhaupt erst auf den gefährlichen Weg machen, wenn sie keine realistische Chance auf Asyl haben. Eine Überfahrt über das Mittelmeer darf also kein automatisches Ticket nach Mitteleuropa sein – sonst werden sich nicht weniger Menschen auf den Weg machen und auch nicht weniger Menschen bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben kommen. Wir brauchen statt dem Glauben alle Menschen in Europa aufnehmen zu können, mehr Hilfe vor Ort.

Goergen: Frontex rettet Flüchtlinge unmittelbar vor Libyen und bringt sie nach Italien. Ist das der richtige Weg oder wird damit nicht sogar ein Fluchtanreiz geschaffen? Spanien repatriiert Bootsflüchtlinge sofort nach Afrika, nicht auf das spanische Festland. Warum wird das nicht auch auf das östliche Mittelmeer übertragen? Gibt es dazu eigentlich Gespräche auf europäischer Ebene?

Kurz: Solange eine Überfahrt übers Mittelmeer ein Ticket nach Mitteleuropa ist, werden die Zahlen der Flüchtlinge nicht zurückgehen, immer mehr werden sich auf den Weg machen und immer mehr werden auch bei der gefährlichen Überfahrt ums Leben kommen. Ich bin überzeugt, es ist der falsche Weg die Schlepper entscheiden zu lassen, wer nach Europa kommt – noch dazu über diesen gefährlichen Weg, oft ohne Chance tatsächlich Asyl zu bekommen. Wir müssen mehr in Hilfe vor Ort investieren, mit der wir mehr Menschen helfen können, und mit Resettlement-Programmen arbeiten – das heißt eine für die Integration schaffbare Anzahl von Menschen in Not auf sicherem Weg direkt aus der Krisenregion zu holen.

Goergen: Können kleinere Staaten durch ihr Zusammenwirken die Entwicklung zu immer mehr Zentralismus und Bürokratie in der EU-Kommission umkehren? Welche Reformen sind in der EU jetzt notwendig und machbar?

Kurz: Mein Zugang ist, Europa soll groß sein in den großen Fragen und klein in den kleinen Fragen. Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, andere Themen sind in den Regionen besser zu lösen. Bevor wir über die Weiterentwicklung der EU sprechen, brauchen wir eine Lösung bei der Migration.

Goergen: Wie viel Einwanderung kann der Kultur- und Sozialstaat verkraften, ohne sich selbst zu gefährden?

Kurz: Bei der Regierungsklausur am 20. Jänner hat sich die Bundesregierung darauf geeinigt, dass wir Österreich nicht über das Zumutbare hinaus belasten wollen. Daher erfolgte der Beschluss, den Flüchtlingsstrom nach Österreich deutlich zu reduzieren auf das Ausmaß von maximal 1,5 Prozent der Bevölkerung. Auf vier Jahre verteilt ergibt das den Verteilungsschlüssel von 37.500 Menschen für dieses Jahr, 35.000 im Jahr 2017, 30.000 im Jahr 2018 und 25.000 im Jahr 2019.

Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass es trotz des aktuellen Fokus auf Flüchtlingsintegration auch weitere Herausforderungen für die Integration in Österreich gibt. Abseits der Fluchtmigration sind 2015 über 125.000 Menschen nach Österreich gekommen. Auch diese Zielgruppen dürfen nicht vernachlässigt werden – ebenso wenig, dass Österreich nach wie vor nicht attraktiv genug für Hochqualifizierte ist.