Tichys Einblick
Teil 1: Intellectual Dark Web

Niall Ferguson gegen den Konformismus

In den 1980er Jahren hieß es: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heißt es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen. Die neue Diversität ist das Gegenteil von echter Vielfalt. In ihrem Namen werden all jene diskriminiert, die nicht der gewünschten Weltanschauung entsprechen.

imago/ZUMA Press

Niall Ferguson konstatiert im Interview mit René Scheu, nachdem er an vielen Elite-Universitäten wie Cambridge, Oxford, New Yorkund Harvard unterrichtet hat, zum tiefgreifenden Stimmungswandel der Hochschullandschaft in den letzten dreißig Jahren:

„Die Linken haben die Macht übernommen. Und sie, die sich in der Theorie für die Inklusion starkmachen, haben in der Praxis alle Andersdenkenden konsequent exkludiert.”

Der kritischen Nachfrage von Scheu, Chef des Feuilletons der NZZ, ob das nicht Verschwörungstheorie wäre, antwortet Historiker Ferguson:

„In den 1980er Jahren hiess das: Vielfalt an Ideen, Positionen, Zugängen. Heute heisst es: Diversität von Hautfarben, Geschlecht, sexuellen Präferenzen. Die neue Diversität ist das Gegenteil von echter Vielfalt. In ihrem Namen werden all jene diskriminiert, die nicht der gewünschten Weltanschauung entsprechen.”

Ferguson setzt noch einen drauf:

„Und wir tun in den USA nicht einmal mehr so, als wären wir ein meritokratisches System – was zählt, sind die richtigen ethnischen und sexuellen Merkmale. Was hier längst Standard ist, wird zum Standard in der ganzen angelsächsischen Welt – und zuletzt auch in Westeuropa. Das ist eine Bankrotterklärung des akademischen Betriebs, der Demokratie und der Marktwirtschaft.”

In diesem Interview könnte man an vielen Stellen akademisch durch politisch und Professoren durch Politiker und Journalisten ersetzen, die Beobachtungen und Feststellungen blieben gleich gültig. An einer Stelle sagt Ferguson selbst:

„Der Professor als Aktivist ist ein Vorbild, das sich durchgesetzt hat. Die Linke hat den ökonomischen Kampf in den 1980er Jahren verloren – und das wurde nach dem Fall der Mauer umso offensichtlicher. Aber was lange verborgen blieb, war die Tatsache, dass die Linke schon damals sehr erfolgreich einen kulturellen Kampf gegen das Establishment führte. Unterstützung dafür fand sie in der Frankfurter Schule, in Michel Foucault und der French Theory – und irgendwann wurden die Jammer- oder Beschwerdestudien als Disziplin erfunden.”

Ferguson ist einer der raren Historiker, die den Zusammenhang zwischen gestern und heute sehen und was der für die Zukunft bedeutet. Das lässt ihn klarsichtig sagen:

„Und was in der akademischen Welt in den letzten dreissig Jahren stattgefunden hat, vollzieht sich nun in den staatlichen Verwaltungen und zunehmend auch in den börsennotierten Unternehmungen.”

Nein, natürlich sei er mit seinen Feststellungen gegen die Entwicklung in der akademischen Welt nicht allein, bestätigt Ferguson den Einwand von Scheu:

„… es sind völlig unterschiedliche Menschen, die meine Ansichten teilen, Frauen, Männer, Leute mit heller und dunkler Hautfarbe, Junge und Alte. Es geht ja in der Tat um eine Frage der intellektuellen Integrität. Die meisten tun es im Stillen, und einige tun es auch öffentlich, zum Beispiel im Intellectual Dark Web. Aber jene, die es wagen, sich zu äussern, sind eindeutig in der Minderheit.”

„Intellectual Dark Web”? Diese Figur dürfte vielen Lesern in Europa nicht vertraut sein. Wer das für sich ändern möchte, kann hier anfangen: „Die Postintellektuellen, die aus dem Dunkeln kamen”.

Niall Ferguson jedenfalls erklärt hier seine Zugehörigkeit zu den Intellektuellen, die in den alten akademischen Einrichtungen verdrängt werden und sich nun auf neue Weise an neuen Stellen zu organisieren beginnen – wie eben im „Intellectual Dark Web”. Die klassischen Konservativen und klassischen Liberalen (also das Gegenteil derer, die sich heute im Westen so nennen) besiedeln die Internet-Welt. Das ist für mich die aufregendste Botschaft dieses Interviews. Ferguson sagt dazu auch noch:

„Wir sind ein wilder Haufen und letztlich nichts anderes als Namen, die auf einem gemeinsamen Mailverteiler stehen. Aber ja, da herrscht echte Vielfalt, und was uns eint, ist der Wille, den neuen Konformismus nicht einfach hinzunehmen. Was uns jedoch fehlt, ist eine Art Pakt für den Ernstfall, in Anlehnung an den Artikels 5 des Nato-Vertrags, genannt Bündnisfall: Ein bewaffneter Angriff auf ein Land wird als Angriff auf alle Länder angesehen – und alle Länder schlagen mit vereinten Kräften zurück … Wenn eine Person attackiert und isoliert wird, dann wenden sich für gewöhnlich alle von ihr ab, auch die früheren Unterstützer, denn wer setzt schon gern seine eigene Reputation aufs Spiel? Sie ist unter Akademikern, Intellektuellen und Politikern das wohl höchste Gut. Die Logik geht so: Wer gegen die politisch korrekte Orthodoxie ist, ist ein Rassist. Und wer einen Rassisten unterstützt bzw. sich nicht deutlich von ihm abgrenzt, ist selber ein Rassist. Es braucht einigen Mut, um sich mit der eigenen Reputation gegen diese Logik der Verleumdung zu stellen.”

Was Ferguson hier will, entspricht exakt dem, was Tichys Einblick mit seinen begrenzten Ressourcen tut. Denen eine Stimme für Freiheit und Recht zu geben, die sich der veröffentlichten Einheitsmeinung nicht anschließen wollen oder bereits von ihr öffentlich verfolgt werden.

Das außergewöhnlich erhellende Interview von René Scheu mit Niall Ferguson gibt noch mehr her. Davon in zwei weiteren Teilen in den folgenden Tagen.

Als Anregung zum Weiterlesen, was Ferguson über die nicht stattgefundene offene Debatte über die Großtotalitarismen des 20. Jahrhunderts sagt:

„Wer – wie Hannah Arendt in ihrem Buch über die Ursprünge totalitärer Herrschaft – auf strukturelle Parallelen der beiden Totalitarismen hinwies, wurde fortan nicht mehr gehört oder schlechtgemacht. Damit war der moralische Sieg der Sozialisten und Sozialdemokraten über die Liberalen und Konservativen besiegelt.”