Tichys Einblick
Wider moralische Selbstgewissheit

Gesucht: Stimmen der Vernunft

"Ein Kardinalproblem unserer Zeit könnte sein, dass wir alle so irrsinnig gut Bescheid zu wissen glauben, dass wir unseren permanenten Blick in den Spiegel nicht nur mit Selbst-, sondern sogar mit Welterkenntnis verwechseln – und uns für gewitzter halten, als wir sind."

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Lange nicht so was Kluges gelesen wie von Arno Frank in der taz. Er beginnt: »Es war in den neunziger Jahren auf der Universität in Marburg, als mir die beängstigende Selbstgewissheit eines bestimmten Milieus zum ersten Mal auffiel.«

So war es mir beim Sommertreffen der europäischen Syndikalisten 1967 in Westberlin ergangen (im Fritz-Teufel-Sommer), an dem ich für meinen damaligen Arbeitgeber, den Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), dessen Politische Abteilung ich leitete, teilnahm (übrigens zusammen mit dem späteren FDP-Politiker Walter Hirche). Die Genfer Syndikalisten berichteten stolz, dass sie den AStA erobert und die umfangreichen sozialen Einrichtungen desselben für Studenten vernichtet hätten – das Muster für die Abwicklung des VDS durch den SDS ein Jahr später, als ich schon nicht mehr dort war.

Frank beschreibt, wie er auf dem Bau arbeitete, während seine Studienkollegen sich »nach den Seminaren im Frazzkeller oder der Buchhandlung Roter Stern trafen, um sich vertiefend über Texte von Trotzki auszutauschen«. Schauen Sie rein in seinen Text, es lohnt.

Einmal habe er gewagt, im Seminar auf den Widerspruch hinzuweisen, »dass all das theoretische Wortgeklingel „da draußen“ auf komplett taube Ohren stieß.« Der Professor habe ihn milde angelächelt und über »Verblendungszusammenhänge« belehrt wie sein »damals bester Freund, der um den Hals einen erbeuteten Mercedes-Stern trug wie den Skalp eines Feindes: „Mercedes ist ein Rüstungskonzern, weißt du das nicht?“, fragte er und stieg in seinen charmanten Kleinwagen der Marke Renault, die damals ebenfalls nur der Ableger eines Rüstungskonzerns war.«

Ich fuhr damals gut auf Podiumsdiskussionen mit SDS-Leuten. Auf ihre Belehrung antwortete ich mit Zitaten von Bakunin, Lenin und so weiter, die ich passend zum Stoff erfand. Worauf sie mit jedem weiteren Insistieren aufhörten, indem sie das Thema wechselten. Linken Propheten widerspricht der Linke nicht.

Arno Frank schreibt:

»Ich hatte – und habe – dieser moralischen Selbstgewissheit nichts entgegenzusetzen als meine Zweifel. Zumal gerade die glühendsten Verfechter ihre Ideale wie einen Scheck mit sich herumtrugen, der niemals gedeckt wurde. Mein sozialdemokratischer Freund, der Herbert Wehner so gut nachmachen konnte? Ist heute Lobbyist für Energie­kon­zerne. Meine kommunistische Freundin, die ihren bourgeoisen Vermieter „an die Laterne“ wünschte? Schreibt heute gut bezahlten Flachsinn für Boulevardblätter. Der Punk? Wurde der Bürgersohn mit Immobilien, der er immer war.«

Diese Lebenserfahrung könnte ich mit Dutzenden Beispielen verlängern, das Muster, je weiter „links” zu Beginn, desto unbekümmerter ganz anderes später, gilt übrigens oft auch spiegelbildlich für „rechts”. Die Welt ist voller „Märzgefallener”. Leider springen so viele herzhaft von einem Extrem ins andere, statt sich am Standort der Vernunft niederzulassen. Vernunft ist ihnen konterrevolutionär.

Frank weiter:

»Meine Skepsis ist geblieben und leistet mir weiter gute Dienste immer dann, wenn mir Selbstgewissheit begegnet, vor allem in weltanschaulichen Belangen. Sobald jemand vorgibt, die Lage durchschaut und einen Weg zur Lösung der betreffenden Probleme zu kennen, sobald also jemand sich als „holier than thou“ ausgibt – ist er schon als Schwindler entlarvt. Sein Habitus begegnet uns nicht nur bei alten Rechten, wo es zu erwarten ist, sondern auch unter jungen Linken, wo er immer wieder aufs Neue irritiert.«

Genau so ist es. Wer den „linken” Heiligeren als du nicht zustimmt, ist „rechts”, wer den „rechten” Heiligeren als du nicht zustimmt, ist „links”. Und zwischen diese Pole passt keine Diskussion, keine, null. Nicht nur im unpolitischen Deutschland, sondern im ganzen Westen, vor allem auch in den USA (von wo ja alles mit Verspätung hierher kommt und dann primitiver als dort übernommen wird). An die Stelle der einstigen Debatte sind zwei Demonstrationszüge getreten, die sich gegenseitig ihre Transparente hinhalten und ihre argumentlosen Parolen brüllen (das „rechte” Gegenstück zum folgenden Bild lässt sich finden, auch wenn es (bisher) seltener auftritt).

Frank beschreibt das mit klaren Worten – gänzlich unpolitologisch und unsoziologisch – anschaulich und überzeugend:

»Da wird fast schon instinktiv ein Ton in Anschlag gebracht, der alles andere als „liberal“ ist. Schnell kommt eine Unerbittlichkeit ins Spiel, die keine Gefangenen macht. Das mag bisweilen sehr intelligent und vernünftig klingen, erinnert mich in seiner Unbedingtheit aber doch an zänkische Kleinkinder: „So ist das nicht! Wenn du das sagst, bist du doof! Ich hasse dich!“ Meine Erfahrungen mit zänkischen Kleinkindern haben mich gelehrt, dass nach einer solchen Eskalation einstweilen kein vernünftiges Wort mehr möglich ist.«

Politische Gesäßgeographie
Links und Rechts kennt keinen Dialog
Einen Musterfall erleben wir in diesen Tagen mit den unzähligen Äußerungen zum Stichwort Özil. Um ihn geht es dort ebensowenig wie um des Deutschen Lieblingskind Fußball. Die einen schlagen Özil und meinen jene Zuwanderer, die vor keiner Gefahr geflohen sind, sondern den deutschen Rechtswegestaat und Sozialstaat ausnutzen. Sie meinen noch mehr jene Hiesigen, die diesen Zuwanderern dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen – „Linke” also und/oder Profiteure. Die anderen schlagen jene, die Özil schlagen, und sind klammheimlich herzlich froh, endlich einmal wieder zum Gegenangriff gegen „rechts” übergehen zu können. Beide eint, dass ihnen Özil in Wahrheit nichts bedeutet.

In »digitaler Ausblendung« (Frank) stehen sie sich täglich gegenüber, fühlen sich »auf der richtigen Seite« mit »folgenlosen Meinungen zum Nahen Osten, zu Donald Trump und zum bedingungslosen Grundeinkommen«. Und der unverbrüchlichen Sicherheit, dass die anderen nicht nur unrecht haben, sondern dafür gnadenlos und mit allen Mitteln verfolgt werden müssen, die ihnen gegenüber selbstverständlich nicht eingesetzt werden dürfen.

Arno Frank, der vermutlich nichts dagegen haben wird, wenn ich ihn einen selbstkritischen Linken nenne, schreibt gegen Ende seines Beitrags:

»Bis dahin spielen wir uns ohne allzu verschlungene akademische Umwege als „hippes Völkchen“ auf, ein im Zweifelsfall rot lackiertes Justemilieu, das soziale und kulturelle Realitäten in günstigen Stadtvierteln für Filmkulissen hält, in denen das bessere, ach was, beste aller Leben all jenen vorgespielt werden kann, für die das Leben alles andere ist als ein Spiel.«

Da spricht einer von innen, nicht von außen, aber er sieht die draußen, wenn er sagt, was „all jenen vorgespielt werden kann, für die das Leben alles andere ist als ein Spiel.” Er schont das eigene Milieu nicht, sondern hält ihm den Spiegel vor:

»Was sich hier äußert, ist eine nach außen umgestülpte und durchaus missionarische Innerlichkeit, behaglich eingerichtet freilich in den vorbildlich isolierten Eigentumswohnungen unserer Selbstgewissheit.«

Mit seinem letzten Absatz kann Frank dann zu recht nicht nur die im rot lackierten Justemilieu, sondern alle meinen:

»Ein Kardinalproblem unserer Zeit könnte sein, dass wir alle so irrsinnig gut Bescheid zu wissen glauben, dass wir unseren permanenten Blick in den Spiegel nicht nur mit Selbst-, sondern sogar mit Welterkenntnis verwechseln – und uns für gewitzter halten, als wir sind. Könnte sein. Ganz sicher bin ich mir aber auch nicht.«

Den Schuh ziehe ich mir voll an, widerspreche nur der Einschränkung im letzten Satz. Da bin ich mir sicher. Sonst nicht immer.

Der Beitrag von Arno Frank ist eine Stimme der Vernunft. Bitte mehr davon. Ich will die gegenseitige Anschreierei nicht mehr hören. Egal, von wem sie kommt. Argumente bitte und Lösungsvorschläge.