Tichys Einblick
Kursänderungen

EU: Uneiniger denn je

Das positivste über die EU, das zu Jahresbeginn 2019 gesagt werden kann, ist, dass nennenswerte Änderungen wahrscheinlicher sind als the same procedure as every year.

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Redakteure eines Wochenmagazins führen ein Interview mit Österreichs Bundeskanzler Kurz. Sie stellen dem Text diesen Satz voran: „Seit einem Jahr regiert Sebastian Kurz das Lieblings-Nachbarland der Deutschen. In der Koalition mit Rechtspopulisten. Aber nicht einmal das bremst seinen Höhenflug.“

Aber nicht einmal die „Koalition mit Rechtspopulisten … bremst seinen Höhenflug“. Journalisten, die sich selbst ganz überwiegend als „linksliberal“, grün, links oder ähnlich verstehen, kommt gar nicht mehr in den Sinn, dass der Erfolg von Kanzler Kurz nicht trotz der „Koalition mit Rechtspopulisten“ zustande kommt, sondern ihretwegen.

Die Aussage, aber nicht einmal die „Koalition mit Rechtspopulisten … bremst seinen Höhenflug“, ist Ausdruck einer systematischen Wahrnehmungsblockade, Folge von ideologischem Denken, besser gesagt: Fühlen.

Für Protagonisten der aus den USA in den ganzen politischen Westen eingewanderten Welle der kollektiven Erziehung für einen besseren Planeten (Merkel) ist es so selbstverständlich, dass man nur trotz „Rechtspopulismus“ Erfolg haben kann und nicht wegen, dass dies keiner Erläuterung bedarf. Hell ist Linkspopulismus, der nicht so genannt wird, dunkel ist Rechtspopulismus, wie jeder genannt wird, der anderer Meinung ist als die Kräfte, welche bisher die meisten Regierungen im Spektrum von schwarzen bis grünen und roten Parteien prägten. Aber seit 2018 dreht der Wind.

Symptom Juncker

Jean-Claude Juncker, der höchste Beamte der EU, hat für den Mai 2019, den Monat der Wahlen zum EU-Parlament, einen sogenannten Gipfel nach Sibiu (deutsch: Hermannstadt, ungarisch: Nagyszeben) in Rumänien einberufen. Seit die sozialdemokratische rumänische Regierung die Nachfolge Österreichs in der Ratspräsidentschaft der EU antreten soll, zweifelt der Beamte Juncker die Eignung Bukarests öffentlich an. Die Krönung der Begabung für öffentliche Dinge: Der Gipfel in Sibiu ist der hilflose Versuch der Kommission der EU, den Ausgang der Wahlen zum Parlament im Sinne der dort jetzt Bestimmenden zu beeinflussen.

Entweder von diesem Gipfel der Propaganda geht gar keine Wirkung aus oder er bringt die Kritiker des Zentralismus der EU noch mehr auf. Denn die politische Ausrichtung der Regierungen steht wenigstens in der Hälfte der 28 Mitgliedsländer der EU bei dortigen nationalen Wahlen auf der Kippe. In allen Mitgliedsländern werden die ohnehin nationalen Wahlen zum EU-Parlament, die irreführend Europawahlen genannt werden, diesmal noch viel mehr als bisher als nationale Probewahlen verstanden und organisiert. EU-Themen waren nie bestimmend bei Wahlen ins Parlament auf Achse zwischen Brüssel und Straßburg. Diesmal ist das anders: Nähe und Ferne zum Projekt des Zentralismus der ever closer union, Zustimmung und Ablehnung wird in vielen Ländern im Zentrum des Wahlkampfs stehen und über seinen Ausgang mitentscheiden.

Jede zweite Regierung in der EU auf der Kippe

In Italien haben Lega und Cinque Stelle Sozialdemokraten und Forza Italia in die Opposition geschickt. In Griechenland steht Syriza vor der Ablösung, in Spanien die Sozialisten. Schweden hat nach dem Wahlsieg der Schwedendemokraten im September noch immer keine neue Regierung, so steht es auch in Lettland seit den Wahlen im Oktober. Möglicherweise muss in beiden Ländern neu gewählt werden.

Dänemark setzt seine Kursänderung für geschlossene Grenzen fort. Belgien wählt zugleich mit der EU-Wahl auch national: Die nächste Regierung wird wohl an der Nieuw-Vlaamse Allantie (N-VA), die wegen des UN-Migrationspakts die jetzige Regierung verließ, nicht vorbeikommen. Die N-VA ist für die Loslösung Flanderns. Wie es in Belgien weiter geht, steht in den Sternen. In Frankreich schmilzt die Zustimmung zur Bewegung La République en Marche von Macron, von der niemand so recht weiß, was sie überhaupt ist, im Konflikt mit den Gelbwesten weiter dahin.

In praktisch allen europäischen Ländern des ehemaligen Sowjetblocks geht die Zeit der willigen Gefolgschaft dem goldenen Zügel der EU gegenüber dahin und verkehrt sich in kratzbürstige Opposition. In Finnland, das in der zweiten Jahreshälfte für den Ratsvorsitz in der EU dran ist, ist mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung für Kernenergie zur Schonung der Umwelt, das ist die höchste Zustimmung seit 34 Jahren.

Nach der weitgehenden Schließung der Balkanroute, die von Griechenland über Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Mitteleuropa führte, hat sich eine Route über Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien etabliert. Darauf reagiert Kroatien an Brüssel und Berlin vorbei lautlos mit Abschiebungen, wie am Balkan nach alter Tradition vieles informell passiert nach der Tradition, dann helfen wir uns eben selbst.

Neue Formationen im Entstehen

Fest im Sattel sitzen die Regierungen in den Niederlanden, Österreich und Irland. Von ihren Regierungschefs wird hinter den Kulissen gesagt, sie schmiedeten an einer neuen Achse zum Kurswechsel in der EU: in Richtung Beschränkung und Konzentration auf die großen Dinge, die Nationalstaaten alleine nicht oder nicht gut können. Klingt nach einem mittleren Weg zwischen dem bedingungslosen Ja zur Fortsetzung des Zentralismus, wie ihn nur noch Berlin und Luxemburg unterstützen, und den ziemlich kompromisslosen, wie Italiens Lega und ihre Verbündeten am liebsten durchsetzen möchten.

Wie auch immer, eines ist wohl sicher: So wie bisher geht es in Brüssel nicht weiter. Wer es an die Spitze auf den Platz Junckers schafft, hängt nicht zuletzt vom Abschneiden der Mitgliedsparteien der EVP ab, der auch die CDU und CSU angehören (auch die ÖVP von Kurz und Fidesz von Orban). Verliert die EVP-Fraktion im Parlament der EU ihre Mehrheit, werden dort die Karten ganz neu gemischt: Ausgang völlig offen.

Alles spricht dafür, dass die Bildung der neuen Kommission lange dauern wird – wie schon davor das Gefecht um den Vorsitz im Parlament, also der ganze Postenverteilungsprozess lange dauern kann. Selbst, dass dann Großbritannien den Brexit immer noch verhandelt, ist gut möglich. Das positivste über die EU, das zu Jahresbeginn 2019 gesagt werden kann, ist, dass nennenswerte Änderungen wahrscheinlicher sind als the same procedure as every year.