Tichys Einblick
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Der Lockdown ist nicht unumgänglich

Ein Autor bezieht die Gefährlichkeit von Ideologie auf die Krise der Corona-Politik, aber seine Diagnose trifft natürlich auf alle Krisen genannten Probleme zu, die alle Politik-gemacht sind: Eurokrise, Infrastrukturkrise, Energiekrise, Bildungskrise, Krise der öffentlichen Sicherheit, Migrationskrise, EU-Krise und so weiter.

imago images / Andreas Gora
Julian Nida-Rümelin, Staatsminister für Kultur und Medien im ersten Bundeskabinett Schröder, hat einen Beitrag für die Welt geschrieben, Titel: „Der Lockdown ist unumgänglich? Die Daten sprechen eine andere Sprache“. Nida-Rümelin lehrt an der Universität München (Entscheidungs- und Rationalitätstheorie, theoretische und angewandte Ethik, politische Philosophie und Erkenntnistheorie). Er war von 2009 bis 2013 Mitglied des Parteivorstandes der SPD und Vorsitzender ihrer Grundwertekommission.

Einen Mann wie Julian Nida-Rümelin können Medien angesichts seiner Biografie nicht einfach in die üblichen Rubriken wie Corona-Leugner oder sonstwie außerhalb der breiten Einheitsfront von Regierung und loyaler Opposition einordnen. Präsentiert er nun eine differenzierte und vor allem eigenständige Meinung zum momentanen Megathema Corona, passiert im deutschen Blätter- und Sendewald folgendes: nichts. Der politmediale Komplex setzt unbeeindruckt seinen Weg in die Sackgasse fort und wird bald die Geschwindigkeit erneut erhöhen, weil das bisherige Marschtempo nicht die erwünschten Ergebnisse brachte.

Aber, was Nida-Rümelin schrieb, kann jeder lesen. Ich will mal festhalten, was mir besonders wichtig erscheint. Ausgangspunkt ist eine Beobachtung, die jeder selbst machen kann, wenn er nur hinschaut:

Selbst nach sehr rigiden und langanhaltenden Ausgangs- und Mobilitätsbeschränkungen schnellen die Zahlen einige Wochen oder Monate später wieder nach oben. 

Auch auf des Autors Bewertung könnte jeder selbst kommen:

Da die meisten Fachleute annehmen, dass eine Impfung erst in vielen Monaten, wenn überhaupt, die Pandemie eindämmen wird, hieße das, immer wieder das ökonomische, soziale und kulturelle Leben erneut massiv zu dämpfen, mit immer gravierenderen Folgen für Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass politisch Informierte und keiner obrigkeitlichen Sicht Verpflichtete zu anderen Schlüssen kommen könnten als diesen:

Ein Abgleiten in eine europäische, möglicherweise sogar globale Depression könnte bei wiederholten Shutdowns der Wirtschaft die Folge sein. Die Auswirkungen auf die soziale, kulturelle und politische Entwicklung könnten in vielen Ländern der Welt gravierend sein, bis zur Gefährdung der Demokratie.

Bevor Nida-Rümelin eigene Empfehlungen formuliert, sagt er aus guten Gründen, wie jeder weiß, der die tägliche offizielle Propagandawalze einigermaßen verfolgt:

In einer solchen Situation hilft nur die evidenzbasierte, rationale Abwägung der Optionen. Gefordert ist in der Krise vor allem eines: Eine Urteilskraft, die die Gesamtsituation im Blick hat, geleitet von ethischen Prinzipien und einem realistischen, faktengestützten Blick auf die Gesamtlage. Wer wie führende Epidemiologen der Universitäten Harvard, Oxford und Stanford ein fokussiertes Vorgehen fordert, das Ökonomie und soziales Leben intakt hält, aber die am meisten Gefährdeten effektiv schützt, hat keine Diffamierung verdient, sondern eine sachliche Auseinandersetzung mit Pro- und Contra-Argumenten …

Seine eigene Einschätzung, schreibt Nida-Rümelin, stehe „quer zu den aktuellen ideologischen Auseinandersetzungen“, er fasst sie in sieben Punkte, aus denen ich weniges herausgreife:

  • Eindämmung ist, wenn sie sich realisieren lässt, die beste Strategie. Deutschland ist dazu technisch und logistisch nicht fähig. Nicht nur China, sondern auch die demokratischen Staaten Südkorea, Taiwan und Japan können das und sind daher weit erfolgreicher als alle europäischen Länder.
  • Das Risiko von Covid-19 ist viel extremer konzentriert bei Vorerkrankten und Hochbetagten als bei Influenza. Das Risiko, an Covid-19 zu sterben, ist bei 75- bis 85-Jährigen zweitausend Mal so hoch wie bei Menschen unter 35.
  • Es ist inakzeptabel, dass auch acht Monate nach Beginn der Pandemie in Europa immer noch Covid-19-Cluster in Alten- und Pflegeheimen auftreten. Mehr als die Hälfte aller Todesfälle geht in Europa darauf zurück.

Nida-Rümelin empfiehlt, dass die Verantwortlichen ihr Nichtkönnen korrigieren und ihre Strategie ändern. Ich erkenne nicht die geringsten Anhaltspunkte, dass dies geschieht. Dafür gibt es vor allem zwei Gründe, Ideologie und Massenmedienherrschaft. Der Autor schreibt zu Beginn seines Beitrags für die Welt:

Ideologien können in Krisen tödlich sein … Ideologien sind Denkgebäude, die sich gegen Widerlegung durch Abschirmung sperren. Sie erkaufen innere Stimmigkeit durch Realitätsverlust. Sie verlieren die Bewährungsinstanz jeder Theorie, nämlich die Überprüfung an Fakten. Sie verlangen von ihren Anhängern gläubige Zustimmung, das, was im Mittelalter als sacrificium intellectus von den Kritikern klerikaler Dogmen gefordert wurde. Credo quia absurdum, ich glaube etwas, weil es vernunftwidrig ist, ja ich muss zum intellektuellen Opfer bereit sein, gerade weil das Dogma sich nicht rechtfertigen lässt.

Der Autor bezieht diese Gefährlichkeit von Ideologie auf die Krise der Corona-Politik, aber seine Diagnose trifft natürlich auf alle Krisen genannten Probleme zu, die von der Politik selbst gemacht sind: Eurokrise, Infrastrukturkrise, Energiekrise, Bildungskrise, Krise der öffentlichen Sicherheit, Migrationskrise, EU-Krise und so weiter.

Befördert wird diese Megakrise der Classe Politique im ganzen Westen durch eine Folge der Massenmedienherrschaft, die viele noch nicht bemerkt haben. Ob Gesetze oder andere Regierungsmaßnahmen das Ziel erreichen, dessentwegen sie beschlossen oder ergriffen werden, interessiert nicht. Tritt keine Wirkung ein, wird halt wieder was beschlossen: im Falle des Lockdown noch mehr Lockdown. Aber dieses Muster zieht sich durch alle Problemkreise. Den Einheitsmeinungsmedien reicht es, wenn Politik etwas zu tun scheint, ob’s nützt, kümmert sie nicht. Eine alte Volksweisheit gilt auch hier: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.

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