Tichys Einblick
Zu wenige Apfelbäumchen

Sei unzufrieden!

Ich bin unzufrieden mit mir. Ich will gesünder sein. Klüger. Belesener und beredter. Vor allem effizienter. Die Zeit, die uns allen tickt, ich will sie mit mehr Weisheit nutzen. Ich bin unzufrieden und ich will unzufriedener sein.

Warum ist das Glas nur »halb voll«? Welcher Gastgeber meint, dass es eine gute Sitte sei, dem Gast ein nur halb volles Glas zu reichen, damit der sich die trockene Kehle befeuchte? Was wird es anschließend zu essen geben? Ein halbes Schnitzel mit einem halben Blatt Salat?

Man würde es nicht meinen, aber ich glaube nicht an Zufriedenheit. Zufriedenheit ist ein perverses Prinzip, ein folgenreicher Irrtum, einer der großen Lebensfehler. Zufrieden zu sein, das ist wie tot zu sein. Die Toten sind zufrieden. Zumindest nicht unzufrieden.

Ich sehe Bücher in Buchhandlungen, die mich lehren wollen, mich selbst »anzunehmen«. Ein Paket als Metapher fürs positive Selbstbild? Ich will mich aber nicht »annehmen« und schon gar nicht so, wie ich bin. Geben Sie dieses Paket lieber beim Nachbarn ab. Der liest bestimmt auch Bücher wie »Ich bin okay, du bist okay«, nehme ich an. Mich nehme ich nicht an, ich nehme mich nur vorläufig in Verwahrung. Und dann versuche ich, besser zu werden. Weil ich unzufrieden mit mir bin. Weil ich unzufrieden mit mir sein will.

Ich will sportlicher sein. Ich habe letztens von einer »Bewegung« namens »fat acceptance« gehört. Man solle seine Adipositas »annehmen«. Man solle auch behaupten, dick sei »schön«. (Aber nur bei Frauen – wieso nicht bei Männern? Muss ich Donald Trump dann auch »schön« finden?) Was kommt als Nächstes? Eine »uneducated acceptance«, wo man das Studium abbricht und versucht, auch ohne Bildung eine Karriere zu machen? Als »Aktivist« etwa? Oder »Influencer«? Haha. Oh, Moment, das gibt es wirklich. Es greift vor allem in Berlin um sich. Nee, das ist nichts für mich. Lieber Influenza als Influencer.

Ich bin unzufrieden mit mir. Ich will gesünder sein. Klüger. Belesener und beredter. Vor allem effizienter. Die Zeit, die uns allen tickt, ich will sie mit mehr Weisheit nutzen. Ich bin unzufrieden und ich will unzufriedener sein.

Eine einfache Utopie
Leute, kommt zu euch
Ein guter Teil menschlichen Fortschritts passierte, weil jemand unzufrieden war. Nicht immer war es genau so geplant, wie es passierte, aber oft war Unzufriedenheit der Motor. Die Spanier waren unzufrieden mit dem Seeweg nach Indien. Steve Jobs war unzufrieden mit Computern, MP3-Playern und Mobiltelefonen. Buddha war unzufrieden mit der eigenen Spiritualität. Jesus war unzufrieden mit dem angeblich viel zu strengen Theoretisieren der Pharisäer. Helmut Kohl war unzufrieden mit der Teilung Deutschlands. Rosa Parks war unzufrieden mit dem ihr zugewiesenen Sitzplatz. Gandhi war unzufrieden mit britischer Außenpolitik.

Nicht immer wird uns Unzufriedenen die Befriedigung gewährt, den Quell unserer Unzufriedenheit versiegen zu sehen. Doch selbst im Fall der Unzufriedenheits-Auflösung hat der erfahrene Unzufriedene längst den nächsten Samen für neue Unzufriedenheit ausgemacht.

Sei nie zufrieden. Nicht einmal mit deiner Unzufriedenheit. Sei unzufrieden darüber, dass du nicht unzufrieden genug bist.

Um wieder mal einen zu paraphrasieren, dessen Lebensleistung die manifestierte Unzufriedenheit mit der Kirche ist: Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, wäre ich dennoch heute unzufrieden, weil zu wenige Apfelbäumchen wachsen.