Tichys Einblick
Was würde Marx wohl sagen?

Spiegel Nr. 19/2018: Kalaschnikow oder bedingungsloses Grundeinkommen

Die konservativ-liberalen Kommentierungen zum Marx-Jahr eint vor allem eines: Sie sind verhaftet geblieben in Denkweisen, die vor allem vom kalten Krieg geprägt sind. Hier der gute Kapitalismus, dort der böse Marxismus. Wobei gilt: Alternative zum Kapitalismus? Keine.

Hm, vielleicht wäre ein Karl-Marx-Konterfei auf gewohnt rotem Grund doch die bessere Wahl für den Titel des Magazins Der Spiegel gewesen. Selbst dann noch, wenn es zum 200.sten Geburtstag von Karl Marx inflationär abgebildet wird. So wählte der um Individualität ringende Spiegel zwar einen eleganten, aber doch einen Umweg, der keine starken Mitnahmereflexe auszulösen vermag: Dagobert Ducks Geldtresor – ohne Dagobert, dafür plantscht eine Familie vergnügt in den Goldmünzen über der Titelzeile: „Geld für alle!“ und der Unterzeile: „Wie ein besserer Kapitalismus die Welt gerechter machen kann“.

Noch immer präsent: Der Kalte Krieg – zumindest in der Denke

Nun muss man dem Spiegel eines zu Gute halten: Die Redaktion wählt zunächst einmal die bessere Herangehensweise. Die konservativ-liberalen Kommentierungen zum Marx-Jahr eint vor allem eines: Sie sind verhaftet geblieben in Denkweisen, die vor allem vom kalten Krieg geprägt sind. Hier der gute Kapitalismus, dort der böse Marxismus. Hier die Natur, der Darwinismus des freien Marktes, der jede Menge Mehrwert schafft, dort die Ideologie der feurigen Sprüche, die leider keine Brötchen backen. Nun wird unter Marxismus zunächst einmal die von Marx und Engels entwickelte Lehre verstanden. Basierend darauf, dass die kapitalistische Produktionsweise zur beherrschenden Grundwirklichkeit wurde. Hier der ausbeuterische Kapitalist, dort das ausgebeutete Proletariat. Und wer könnte ernsthaft bezweifeln, dass die Zustände zu Lebzeiten des großen Denkers katastrophal waren. Die Jahrhunderte lange Ausbeutung durch den Adel und die Kirche wurde nur durch eine der Kapitalmagnaten ersetzt, das Überleben erst möglich. Marx wollte den Unterdrückten ihr Schicksal als nicht Gott gegeben aufzeigen. Was nach Marx kam, ist bekannt. Diejenigen Diktatoren, die sein Konterfei hochhielten, hinterließen eine Blutspur, ebenbürtig mit der des Christentums. Oder noch viel schlimmer, weil in deutlich kürzerem Zeitraum vernichtend.

Der Spiegel schreibt: “200 Jahre nach Karl Marx ist die Kritik am Kapitalismus allgegenwärtig.“ Und wo sonst fünf oder gar sechs Autoren gemeinsam ihr Titelgeschichte-Süppchen kochen, darf dieses Mal einer alleine. Markus Brauck heißt der überaus bescheidene Kollege. Seinem Twitter-Account folgen weniger als 400 Follower. Seine Tweets sind fast durchweg geteilte tweets. Brauck taucht auch nicht in Talkshows auf, dafür interviewte er einmal Anne Will, als diese an Jauch abtreten musste.

Was bleibt außer einer romantisierenden Kapitalismuskritik?

Nun also der große Auftritt als Titelgeschichten-Schreiber. Für die denkbar unwerbliche Titelbildgestaltung kann er allerdings nichts. Brauck fragt zweihundert Jahre nach dem Geburtstag von Karl Marx noch einmal nach: „Was könnte nach dem Kapitalismus kommen? Ist er reformierbar? Gibt es etwas Besseres?“ Er stellt sich diese Fragen aber nicht selbst. Antworten geben sollen die Globalisierungskritikerin Kathrin Hartmann, der Ökonom Hans Werner Sinn, Bestsellerautor Richard David Precht, die seltsame Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg und der Soziologe Harald Welzer.

Nun zeigt sich Markus Brauck erst einmal mächtig beeindruckt von der Eloquenz der Globalisierungskritikerin und bescheinigt ihr anschließend: Sie träume nicht von Katastrophe, Umsturz und Revolution, „aber schon vom Systemwechsel, der vielleicht in der Nische beginnt.“ Dort, wo Griechen solidarische Apotheken gründen, wo sich in Bangladesh Kleinbauern zusammentun oder wo sich ganze Dörfer in Indonesien zusammenfinden und der Palmindustrie den Kampf ansagen um gegen deren Monokulturen anzukämpfen.

Ist das romantisierende Kapitalismuskritik? Oder hat Brauck alles nur falsch verstanden? Vielleicht hätte er mit der Ikone der Kapitalismuskritik, mit der Kanadierin Naomi Klein, sprechen sollen. So befindet der Autor: Der Kapitalismus ist ein beeindruckender Überlebenskünstler: „Der Kapitalismus ist immer geblieben.“

Aber er war nicht gut zur Erde und seinen Menschen, soll man dann denken, wenn Brauck die kapitalismuskritischen Debatten der Gegenwart herunterbetet, wie abgelesen aus einer der nächst besten Weltverbesserer-Fibeln: 800 Millionen Hungernde, überfischte Meere, verdreckte Luft, Erderwärmung, Dürren, Überflutungen, extreme Wetterlagen. Dankenswerterweise wird so schon zu Beginn des Artikels klar: die Kapitalismuskritik der Gegenwart ist eine grüne. Der Reichtum der Superreichen eine Randnotiz, eine Kritik an der Ausbeutung des Proletariats aus dem europäischen Blick verschwunden, einfach abgewandert mit den prekären Arbeitsplätzen ins außereuropäische Ausland. Aber natürlich müßte man da auch festhalten: War der Marxismus Made in UdSSR erfolgreicher? Die ökologische Vernichtung Russlands und Chinas ist der Gegenbeweis. Der Kapitalismus hat sich reformiert, Massenwohlstand erzeugt, Milliarden von Menschen aus Armut befreit – vom Marxismus ist dergleichen nicht bekannt. Und jetzt muß also Afrika herhalten.

Flucht wegen oder hin zu einem ausbeuterischen Kapitalismus?

Aber weil Arbeitsplätze auch dort nicht mehr ausreichend zur Verfügung stehen oder die Entlohnung zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig ist, machen sich Millionen auf den Weg nach Europa. Vielleicht, weil in Afrika weiter marxistische angestrichene Regime herrschen, Korruption und einfach zu wenig Kapitalisten die Entwicklung vorwärts treiben. Wie billig ist es eigentlich, jeder negativen menschlichen Regung „Kapitalismus“ anzuheften? So billig also ist die Analysefähigkeit des SPIEGEL. Erstaunlicherweise könnte man sagen, sind Zuwanderungskritiker in den seltensten Fällen automatisch Kapitalismuskritiker. Für Brauck indes überschatten die vermeintlichen Schäden des Kapitalismus seine Erfolge. Zwar habe sich die Zahl der von Armut bedrohten Menschen halbiert, irgendetwas wie „mehr Wohlstand auch global“ sei ausgebrochen, aber all das scheint eben „manchmal überschattet zu sein von dem, was er zerstört.“

Auf die Idee, dass die Zuwanderer nicht vor dem Kapitalismus fliehen, sondern zu ihm hin fliehen – so weit denkt der Autor nicht. Träum weiter, SPIEGEL. Der Maßstab der Literatur an diesem Wochenende ist der Jesuit Martin Rhonheimer. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung formuliert er, wie der Kapitalismus den Wohlstand produziert, den seine Kritiker voraussetzen, dass er ihnen zur Umverteilung zur Verfügung steht. Dumm nur, dass der Marxismus keinerlei Mehrwert geschaffen hat, und deshalb keine Alternative ist.

Womöglich, vielleicht, eventuell – „gibt es ja Alternativen,“ mutmaßt Brauck. Und er wünscht sie sich jenseits von Sozialismus, Kommunismus und anderen Ismen. Hier setzt seine Suche an. Erst einmal attestiert er lediglich eine „Dekonstruktion des Kapitalismus.“ Dabei hat er sich die Antwort zwischen den Zeilen längst selbst gegeben, als er Umweltdebatten mit Kapitalismuskritik verwechselte. Er hätte nur die richtige Schlussfolgerung ziehen müssen: Die neuen Gegner des Kapitalismus (des freien – oder negativer: ungezügelten) sind staatliche Maßnahmen zur Rettung der Umwelt. Aus der sozialen Marktwirtschaft ist die Umwelt schützende Marktwirtschaft geworden. Nicht mehr den Proletarier gilt es vor einem Raubtierkapitalismus zu schützen, sondern das Klima, die Meere und den Laubfrosch. Die kommunistische Internationale hat einer Armada staatlich subventionierter, international agierender Umwelt-NGOs Platz gemacht, eingebettet in internationale Abkommen zum Weltklimaschutz, Meeresschutz, Ächtung von Plastiktüten oder was alles noch. Mit Kapitalismus hat das alles wenig zu tun. Der schafft nur die Mittel, an denen sich immer neue NGOs mästen.

Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmen: Verschmelzung von Arbeit und Kapital

Hans Werner Sinn, der laut Autobiografie als Student „Ho, Ho, Ho Chi Minh“ gebrüllt hatte, befindet gegenüber dem Spiegel den Finanzmarktkapitalismus als „völlig außer Kontrolle geraten.“ Nein, Marktwirtschaft führt nicht automatisch zur Demokratie, so Sinn. Und Wirtschaftswachstum mache die Menschen nicht glücklicher. Es gibt ein „Aber“ bei Sinn. Und das ist riesengroß: Wenn Sinn sagt, die Erfindung der Märkte vor zehntausend Jahren sei die größte kulturelle Erfindung der Menschheit gewesen. Mehr noch: Ohne Markt, sei Kultur kaum denkbar. Gut, das ist arg theoretisch. Auch die Frage, ob man hier von einer Erfindung sprechen kann, wo selbstredend auch eine kulturelle Entwicklung Märkte geöffnet hat. Solche Fragen nach dem Huhn oder dem Ei finden sich erstaunlich oft in Kapitalismusdebatten, gipfelnd in der Frage, was nun was bestimmt, zwischen Sein und Bewusstsein.

Nun wäre Hans-Werner Sinn nicht Hans-Werner Sinn, wenn er nicht doch ein Rezept für das 21. Jahrhundert parat hätte, wie der uralte Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Marx formuliert hatte, zu überwinden wäre. Seines geht so: Eine Beteiligung der Arbeitnehmer an den Unternehmen „in großem Stil“. Hier geht es Sinn darum, dem Menschen ein zweites Standbein neben dem Arbeitseinkommen zu geben. Der Arbeitnehmer soll auf die Kapitalseite gebracht werden. Sollen also ein paar Aktien das neue Opium für das Volk sein? Als Heilversprechen? Sinn findet ja, denn dann müsse der Staat später nicht wieder mühsam alles umverteilen.

Dem Spiegel-Autor ist das zu technisch-ökologisch gedacht, also fragt er, ob der Kapitalismus nicht viel mehr philosophisch infrage zu stellen ist. Kapitalismus sei doch auch eine Frage der Werte. Und diese würden verpuffen, wenn „Geld ins Spiel kommt“. Also hinüber zu Richard David Precht, dem Populärphilosophen der Deutschen. Oder böser und abschätziger: Der Hedwig Courths-Mahler für die Ausformulierung und einer philosophierenden Ursachenforschung quer durch alle deutschen Befindlichkeiten. Precht sieht die Arbeits- und Leistungsgesellschaft an einem Ende angekommen. Optimistisch sieht er den Menschen der Zukunft als einen, der nicht mehr arbeiten müsse, aber statt Sklaven und Ausländern würden nun Roboter und Computer das Auskommen sichern. Aber nur dann, wenn es ein bedingungsloses Grundeinkommen gäbe, ansonsten wäre Massenarbeitslosigkeit und Elend unvermeidlich.

Roboter und KI mit Grundeinkommen für das Selbstwertgefühl

Nun kann das ja nur gelingen, wenn die Produktionsmittel, also die Roboter ihren Besitzern enteignet werden. Aber auch hier sieht Precht einen Automatismus. Dann, wenn die Kaufkraft sinke, gerate auch die Wirtschaft ins schlingern, dann müssten notwendigerweise Alternativen gesucht werden.

Prechts Streitschrift dazu mit dem Titel „Jäger, Hirten, Kritiker“ ist gerade auf Platz 1 der Bestsellerlisten angekommen. Prechts Einfluss sollte also nicht unterschätzt werden. Zu seinen schlaueren Prognosen gehört ganz sicher jene einer massiven Wertekrise, wenn sich das Selbstwertgefühl der Menschen nicht mehr über ihre Erwerbsarbeit definieren könnte. Das Grundeinkommen sei das Vehikel, diesen Wertesupergau zu überwinden hin zu einem Wertewandel. „Wir schaffen eine Insel des Sozialismus im Kapitalismus“, sagt Precht.

Auch Anke Domscheit-Berg liebäugelt mit dem Sozialismus. Allerdings mit einen digitalen, erklärt Autor Brauck. Domscheit-Bergs Vorbild sei eine „Internetkultur des Teilens“. Brauck findet die Bundestagsabgeordnete (parteilos, gewählt über die Liste der Linkspartei) „auf bemerkenswerte Weise cool in Bezug auf alles, was mit Zukunft zu tun hat.“ In der Digitalisierung sieht Domscheit-Berg die größte Chance, einen Gegenentwurf zum Kapitalismus hinzubekommen. Marx 2.0. Die Digitalisierung sei das Ende des Kapitalismus. Mit allem was kaum etwas koste, könne der Kapitalismus einfach nicht umgehen. Wenn künftig eine transplantationsfähige Niere im 3D-Druck hergestellt werden könne, dieses Verfahren aber patentgeschützt sei und die Billigniere trotzdem noch 100.000 Euro kosten würde, sei das nicht mehr vermittelbar. Dann müsse eine neue Vision für die Zukunft entwickelt werden. Für Domscheit-Berg ist der chinesische Staatskapitalismus irgendwie seinem Prinzip nach ein Vorbild, so unerträglich und totalitär dieses System sich im Moment auch zeigen würde, fügt sie fast pflichtschuldig noch an. Es ist billigstes Denken aus der Retorte, was da abgesondert wird, ein Absturz, wenn man Sinn gelesen hat: Gibt  es niemanden, der von Links was zu sagen hat? Muss man auf solche Sprüchemacherinnen zurückgreifen, kein Reiseetat mehr da beim Spiegel? Telefon tut´s übrigens auch, die intellektuelle Kapazität macht es aus. Rhonheimer sitzt übrigens in Wien, so weit ist das nicht weg wie Domscheit-Berg von klugen Gedanken.

Die Gesprächsrunde zur Kapitalismuskritik des Spiegels endet mit dem Hannoveraner Soziologen Harald Welzer. Der befindet, der Kapitalismus hätte alle Alternativen zu ihm zum Verschwinden gebracht. „Diese Alternativen müssen wir aber entdecken, wenn wir als Menschheit überleben wollen.“ Es bräuchte verheißungsvolle „Gegengeschichten“. Gefunden hat er sich leider auch nicht. Aber so ist das eben mit dem Kapitalismus: Drüber schimpfen ist einfacher als ihn zu verstehen oder gar zu ersetzen.

Bedingungsloses Grundeinkommen  – der neue Traum

Auch für ihn, wie zuvor schon für Precht und Domscheit-Berg, liegt die Verheißung im bedingungslosen Grundeinkommen. Aber er weiß noch mehr über die schöne neue Welt: autofreie Städte und eine Landwirtschaft ohne Tierquälereien gehörten dazu. Ja, warum nicht auch garantierte Sexabenteuer für alle, die auch noch mit der #metoo-Debatte kompatibel sind, möchte man nachkarten. Dann, wenn wir jedem weiter seine individuellen Bedürfnisse zugestehen. Kaum einer der Gesprächspartner des Spiegels kommt an dieser einfachen Wahrheit vorbei, also versucht jeder für sich dieses monströse Hindernis zu umschiffen. Mit allen Mängeln, die eine Bergerzählung nun einmal mit sich bringt, wenn man sich nicht zum Gipfelkreuz hinaufgewagt hat.

Nein, Welzer möchte keinen neuen Marxismus. Er möchte eine soziale Bewegung, die wachse und stärker werde. Die sich einig sei in den Grundgedanken. Aber was mit den störenden Querdenkern geschehen soll, bleibt auch er schuldig. Reicht es dieses Mal, wenn man sie nur ausgrenzt, mundtot macht? Oder müssen wieder Gulags her? Welzers Antwort ist ein Marx-Zitat: „Man muss die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt.“ Aber kann man das wirklich? Zum Sound einer Kalaschnikow das Tanzbein zwingen? Wahrscheinlich schon. Wenn einer am Abzug sitzt und bereit ist, durchzuziehen. Dann ist Party. Geburtstagsparty. Happy Birthday, Karl.