Tichys Einblick
Politikerverdrossenheit, ein Eigenprodukt

DER SPIEGEL Nr. 8 – Die deutsche Krise

Bei der Vergabe der Ministerposten muss jemand aufgebaut werden, der Geschlechterproporz muss stimmen und Heimatregionen – alles innere Parteipolitik, nichts zum Wohl des Staates und der Bürger.

Während der Focus Andrea Nahles und Angela Merkel in dieser Woche bereits zu Trümmerfrauen erklärt, die Arm in Arm gemeinsam die Bundesrepublik auf Kurs brächten, titelt der Spiegel: „Die deutsche Krise. Die Schwäche der Volksparteien – die schwache Republik“. Einmal abgesehen davon, dass es keine „deutsche“ Krise ist, sondern eine Krise gesättigter und um Macherhalt buhlender Parteiendemokratien, die auch die Politik in Deutschland ergriffen hat, ist es inhaltlich das Thema, das seit der Bundestagswahl im September 2017 die Bundesbürger mehr und mehr nervt und sorgt: CDU und SPD schrumpfen sich beim Gezerre um die Groko mit immer neuen Kapriolen ins Aus. Oder vielleicht doch gesund?

Den passenden Einstieg zum Thema findet der Leser bei den Hamburgern im Beitrag „Chaostage“ von Nicola Abé, Christiane Hoffmann und anderen. Dort erfährt er, wie die SPD von ihren Juristen erfahren muss, dass sie ihre Wunschvorsitzende Andrea Nahles erst nach Parteitagsbeschluss zur neuen Parteivorsitzenden küren kann und sie sich schließlich auf Olaf Scholz zum neuen Hoffnungsträger einigen. Aber da wird nicht nur dilettiert, sondern es kommt Schlimmeres zutage: Laut Spiegel will Scholz zuerst mit der Kandidatin durchziehen, weil „man Handlungsfähigkeit beweisen müsse“. Man dürfe sich von der Basis nicht vorschreiben lassen, wie man zu agieren habe. Nahles soll sich ähnlich geäußert haben.

Nach Gerhard Schröder wollte die SPD mit Basta-Politik Schluss machen. Es kam Angela Merkel, die mit Alternativlos-Politik weiterregierte. Und jetzt sind wir bei Nahles in der Pipi-Langstrumpf-Politik angekommen. „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“ im Bundestag mehr als schräg gesungen, sagt viel aus über Politikverständnis und -stil. Wie kann man Politikern vertrauen, die ihre eigenen Statuten nicht kennen (wollen)? Welchen Respekt können wir noch gegenüber Gesetzen erwarten? Vielleicht überspitzt und dennoch: Mich erinnert das an die Zeiten von Lenin, wo die Parteispitze den Bürgern notfalls an den Gesetzen vorbei klarmachen will, was für sie am besten ist. Das hilft auch nicht, dass sich Andrea Nahles im Spiegel-Gespräch mit Susanne Beyer, Veit Medick und Michael Sauga staatstragend versucht und die SPD als zukünftig verlässlichen Partner anpreist („Es war schmerzhaft“). Das klingt eher nach dem Pfeifen im Walde.

Volker Bouffier erklärt im Interview „Wir wären verrückt“ mit Ralf Neukirch, dass es keinen Grund gäbe, Angela Merkel infrage zu stellen. Warum eigentlich nicht? Schließlich verlor die CDU unter Merkel entscheidende Marktanteile und blendet Fehler weiterhin aus. Einen Hinweis dazu steuert Elke Schmitter in ihrer Kolumne „Besser weiß ich es nicht“ zum Thema Heimat bei. Das Privileg der Demokratie sei die gemeinsame Zukunft und nicht die private Vergangenheit. „Weil es nicht darauf ankommen soll, woher du kommst, sondern darauf, wohin du willst.“ Also lautet die Kernfrage: Wohin will Angela Merkel und mit ihr die CDU?

Im Beitrag „Der will mich nicht“ breitet sich Markus Feldenkirchen über das Ende der Männerfreundschaft zwischen Martin Schulz und Sigmar Gabriel aus. Tja, das passiert halt, wenn zwei Alphamännchen sich öffentlich um denselben Posten balgen. Fraglich ist, ob es jemals diese Männerfreundschaft überhaupt gegeben hat oder ob sie Ausdruck eines politisches Spielchen war.

Mich stört es gewaltig, dass bei der Vergabe der Ministerposten die Kompetenz anscheinend keine Rolle spielt, sondern andere Kriterien: Hier muss jemand aufgebaut werden, der Geschlechterproporz muss stimmen, Heimatregionen berücksichtigt werden – alles innere Parteipolitik, nicht zum Wohl des Staates und der Bürger. Das ist es, das diese zur Politikerverdrossenheit treibt und in die Arme von sogenannten Verführern, die gar nichts tun müssen außer dastehen und zuschauen: Es sind CDU und SPD, die ihnen die Wähler zutreiben. Die Krise der Politik ist die Krise der beiden Noch-Großparteien, die sich offensichtlich überlebt haben. Allerdings hat ihr Parteienstaat das Land immer noch fest im Griff, der zunehmend zum Würgegriff wird, folgt man dem Spiegel.

In Zeiten, in denen alte Gewissheiten verschwinden, sind Politiker, die keine Werte mehr verkörpern, sondern nur noch Machterhalt um jeden Preis betreiben, ein Auslaufmodell. Notabene: Das Thema Respekt und Werte liegt im Übrigen nicht nur in den Volksparteien im Argen.

Ein Highlight ist der Beitrag „Alles wird besser, und er kann´s beweisen“ von Guido Mingels. Der Harvard-Psychologe Steven Pinker will belegen können, dass es der Menschheit besser geht als je zuvor. Laut Pinker basiert der Fortschritt der letzten 200 Jahre auf der Aufklärung, die dazu beitrug, dass der Glaube an Dogmen und Autoritäten ersetzt wurde durch Vernunft und die Suche nach Wahrheiten und zur Entwicklung eines Humanismus, der das Wohlergehen des einzelnen Menschen ins Zentrum rückt. Mit Blick auf die politischen Kapriolen in Berlin und anderen Hauptstädten fragt man sich, ob wir nicht zurzeit auf dem Weg zurück in voraufklärerische Zeiten sind.

Hochmut kommt vor dem Fall
Holtzbrinck, Steingart und Radio Eriwan
Ein journalistischer Coup gelingt Simone Salden und Yasmin El-Sharif mit „Verkauf unserer Identität“, einem Spiegel-Gespräch mit Alexander Brenninkmeijer über den angeblichen Verkauf von C&A an ein chinesisches Unternehmen. Chapeau, einen so tiefen Einblick in C&A habe ich bisher noch von keinem Journalisten gelesen.

Markus Brauck, Klaus Brinkbäumer, Isabell Hülsen und Martin U. Müller berichten in „Im Kampfe“ über die Hintergründe des Zerwürfnisses von Gabor Steingart mit dem Verleger Dieter von Holtzbrinck. Deutlich wird, dass es nicht um die Pressefreiheit geht, wie es zunächst in großer Inszenierung versucht wurde. Sondern um Bares. Steingart soll höhere Investitionen gefordert haben, auch zu Lasten der WirtschaftsWoche, letztlich gehaltssteigernd für sich. Dabei hat Dieter von Holzbrincks Medien-GmbH schon für 2015 tiefe rote Zahlen an den Bundesanzeiger gemeldet. Da kann einem gepeinigten Verleger schon die Hutschnur platzen.

Auch Hartgesonnene haben ein weiches Herz: Das lesen wir im Beitrag „Verblüffende Zartheit“ von Frank Thadeusz. Nach Auswertung historischer Quellen waren angeblich viele Piraten treu sorgende Ehemänner und Väter sowie verblüffend sensibel. Die Frau des als grausamen geltenden Piraten Edward Low starb kurz nach der Geburt seines zweiten Kindes und sein Sohn starb als Kleinkind und Zeugen beobachteten später, wie der hartgesottene Seeräuber von Weinkrämpfen geschüttelt wurde, wenn ihn die Erinnerungen an Frau und Kind übermannte.