Tichys Einblick
Ausgespiegeltes

DER SPIEGEL Nr. 43: Von Weinstein bis Houellebecq

Houellebecq sagt dem Spiegel, dieses sei sein letztes Interview. Er mag keines mehr geben. Seine Intuition befände sich gewissermaßen „auf der Suche unterhalb des Vernünftigen.“

Betrachten wir zunächst einmal dieses wundervoll zurückgenommene Titelbild des neuen Spiegels des in Wien tätigen Grafikers Francesco Ciccolella. So blumig sein Name, so reduziert seine Arbeiten. Die Presse nennt Ihn einen „jungen Meister der verdichteten Bildidee.“ Dieser Ciccolella ist ein hochinteressanter Typ, hat schon für Bang & Olufsen gearbeitet ebenso, wie als Markenentwickler für Lego. Sein Spiegel-Cover erinnert an einen simplifizierten Art Deco. Nur drei Farben, blau, rot und beige. Illustriert wird so „Macht und Missbrauch“, die Harvey-Weinstein-Story. Der Torso eines übermächtigen Mannes im blauen Anzug mit roter Krawatte hinter einer weiblichen Person in unschuldigem Weiß. Die Krawattenspitze wurde vom Mann ausgehend über die weiße Bluse der Frau gelegt. Eine subtile Vereinfachung mit maximaler Wirkung. Eine Inbesitznahme. Die Frau dreht sich um. Erschrocken, überrascht. Ciccolellas „Macht und Missbrauch“ ist eine großartige Arbeit.

In Österreich und der Schweiz erscheint der Spiegel mit Schwarzweiß-Porträt von Sebastian Kurz auf dem Titel. Düster, gestrig, vorahnungsvoll. Auch hier ist die Botschaft eindeutig: Kurz, da kommt nichts Gutes. Da tritt einer aus dem Schatten ans Licht und auf die europäische Bühne. Nun gut.

Im Leitartikel fordert Anne Clauß Männer auf, Belästiger und Vergewaltiger in ihren Reihen zu outen. Sie schreibt zur #metoo-Aufschrei-Kampagne im Windschatten der Weinstein-Affäre: „Ihr Aufschrei wird aber erst die volle Wirkung entfalten, wenn sich auch Männer angesprochen fühlen.“ Wer unter den Männern zur Gruppe der Anständigen gehört, habe eine Verpflichtung. Wer schweigt, vergewaltigt mit. Mann sollte nicht mitlachen, wenn der Kollege hässliche Bemerkungen über die Körperfülle einer Kollegin macht, schreibt Anne Clauß. Sie ist so eine Dünne aus der Spiegel-Redaktion, an der nicht viel dran ist. Zu böse? Ok, wir lernen noch.

Jan Fleischhauer findet die Empörung über die Aufmerksamkeit um die neue Rechte auf der Buchmesse faul. Soll sich die Linke doch mehr anstrengen. Die Rechten könnten es mittlerweile fast besser: „Heute sind es die Rechten, die mit ihren Provokationen die Öffentlichkeit aufschrecken. Dabei reicht oft schon ein Wort, und alle drum herum fallen in Ohnmacht oder rufen vor Schreck „Nazi, Nazi“.“ Gut gesprochen!

Erstes Thema: #metoo, Frauen twittern Belästigungen. Eine globale Bewegung. Sogar die schwedische Außenministerin schrieb „Ich auch.“  Männer sind Schweine. Am schweinischsten sind mächtige Männer. Der Titel nimmt es auf: „Macht ist wie Alkohol“. Der Spiegel hofft: Vielleicht reicht die Wut dieses Mal aus, „die gesellschaftliche Debatte endlich nachhaltig zu führen.“ Eine gemeinsame Empörung gäbe es nur da, wo es um Belästigung von Kindern geht, weiß der Spiegel. Die Autoren wollen also Kindesmissbrauch und die Belästigung von Frauen gleichstellen. Eine unzulässige Relativierung? Mal drüber nachdenken. Nun ist es natürlich nicht so, dass es keine Gesetze gäbe, die sexuelle Belästigung unter Strafe stellen. Hier ist nun aber die Hürde besonders groß. Denn hier muss das Opfer die Tat nachweisen, was schwer fällt, wenn Belästigungen am häufigsten unter vier Augen passieren. Aber ob nun eine Twitter-Kampagne der richtige Weg ist, scheint fraglich. Ein erster Schritt, ja.

Burka-Verordnung für Frauen?
#metoo – Männer auf der Anklagebank
Was kommt als nächstes, der öffentliche Pranger? Nach amerikanischen Vorbild? Plakatierung von Tätern in der Nachbarschaft?  Immerhin ein Weckruf, denn das hier auch unterhalb der Machtposition eines Harvey Weinsteins etwas im Argen ist, dürfte auch Männern einleuchten. „Einmal habe ich mit meinen High Heels zugetreten“, erzählt Claudia Klemt, PR-Frau aus Rauenberg, als ihr ein Mann an den Po fasste. Es gibt also Männer, die High Heels als Einladung zum Po-Grabschen verstehen. Wer hier als Mann nun aufstöhnt und von Einzelfällen spricht, soll einmal die Frauen in seiner Familie befragen. Er könnte erstaunliche Antworten bekommen. Antworten, die natürlich noch lange kein Grund sind, für die Frauen in der Familie zum Selbstschutz die Burka einzuführen. Nein, liebe Männer, der Westen geht damit anders um. Machen wir es also. Denken wir mal über uns nach.

Nächster Artikel: Die Nato warnt in einem Geheimpapier vor Russland. Unsere Streitkräfte seien einem Angriff der Russen nicht gewachsen. Gefordert wird eine Rückkehr zu den Kommandostrukturen des Kalten Krieges. Die westlichen Armeen sein zwar haushoch überlegen, aber es würde scheitern an Faktoren wie Nachschub, Versorgung und Logistik.

Muss man solche Meldungen ernst nehmen? Natürlich. Aber glaubt wirklich ernsthaft jemand daran, es gäbe noch einen Weltkrieg, der zu gewinnen wäre? Man fühlt sich zurück versetzt zu Kartentisch-Diskussionen aus dem letzten Jahrhundert. Damals, als Joschka Fischer und Co auch gegen den Nato-Doppelbeschluss revoltierten mit Sturzhelm auf dem Kopf.

Der ehemalige Außenminister im Spiegel-Interview. Zu Jamaika fällt ihm Bob Dylan ein: „The Times they are a-changin.“  Zu Fischer fällt uns dass selbe ein. Gottseidank. Und mit unverhohlener Freude vermeldet der fast 70-Jährige:

„Spätestens seit 2015 und dem Ankommen der Flüchtlinge ist klar, dass die Zeit des sich immer mehrenden Sonnenscheins über unserem lieben Vaterland zu Ende geht.“

Özdemir soll Außenminister werden raunt Fischer und die AfD stehe in der Tradition der NSDAP.  Ihm gehe das Drumherumgerede auf den Keks, sagt der Altmeister des Drumherumgeredes. Erklärungen für den Erfolg der AfD hat er keine. Nicht den blassesten Schimmer. Jetzt schnell weiterblättern, bevor ihm doch noch was Schräges einfällt.

Der feine Feuilletonist Alexander Osang bekennt sich zum deutschen Herbst, schiebt es aber auf sein Alter. Selbst in den USA schleicht er sich in Wälder, um Bäume zu umarmen, weil sie ihn an seine deutsche Heimat erinnern. Er wurde auf seinem Wochenendgrundstück in Brandenburg zum passionierten Pilzsammler, erzählt er. Pilze, die Schützlinge der Bäume. Eine schöne kleine Geschichte. Osang bekommt von seinem Nachbarn Steinpilze geschenkt und endet mit den Worten: „Näher war ich noch nie dran an meiner Heimat.“ #metoo möchte man ihm hinterherrufen, wenn man weiterblättert hin zu Sebastian Kurz und der Frage: Was bedeutet sein Sieg für Deutschland?

Die Spiegelianer besuchten Kurz in seinem aufgeräumten Büro im Wiener Außenministerium. Die Sachen sind schon eigenhändig gepackt. Weit hat er es ja nicht, das Kanzleramt ist im selben Gebäude untergebracht – beide gegenüber der Wiener Hofburg. Der Spiegel rückt es gerade: Nein, Kurz sei kein Nazi und auch kein Rassist. Er sei kein Extremer, nur extrem machthungrig. Fesch sei er, der Kurz. Ein konservativer Karrerist, usw. Ja, so macht man das beim Spiegel im Intro, wenn der flotte Nazivorwurf zwar auf der Zunge liegt, aber doch arg zu abwegig, zu blöde wäre, ausgeschrieben zu werden.

Das anschließende Interview mit Kurz ist schlau und intelligent. Also von der Kurz’n Seite aus perfekt belichtet. Nein, Regierungsverhandlungen möchte er nicht „über das deutsche Politmagazin der Spiegel“ starten, bittet er um Verständnis. Unaufgeregter kann man aufgeregte Fragen kaum retournieren. Gut gemacht!

Es folgt ein kluges Essay über Sezessionismus des Historikers Heinrich August Winkler. Die Bürger Europas würden in ihren Nationalstaaten weiterhin „den einzig verlässlichen Hüter von Rechtstaat, Sozialstaat und Demokratie“ sehen. Es ist also noch ein weiter Weg bis zu den Vereinigten Staaten von Europa, mag der eine oder andere Leser gemeinsam mit Winkler feststellen. Wer Nation und Nationalstaaten abschaffen will, zerstöre Europa, so Winklers Schlusswort.

Sport überblättern wir wieder ebenso, wie einen weiteren Artikel, der Trumps Geisteszustand psychologisch beleuchtet und fragt: „Verrückt oder bösartig?“ und kommen zu einem echten Highlight dieser Spiegelausgabe, die tatsächlich alleine deshalb eine Kaufempfehlung nach sich ziehen darf: Ein wunderbares Interview mit dem französischen Autor Michel Houellebecq.

Houellebecq zieht Bilanz. Und wir dürfen dank Spiegel dabei sein. „Bin ich deprimiert oder ist die Welt deprimiert?“ fragt der große Franzose und weiß die Antwort: Natürlich ist es die Welt. Die im von französischen Journalisten angeheftete Sünde der Verzweiflung werde er wohl nie mehr los, sagt ein an der Welt Verzweifelter, der dann aus dieser Verzweiflung heraus einen klaren Blick auf die Gegenwart vornehmen kann. Mit Blick auf den Islam ist Autor Houellebecq persönlich zutiefst davon überzeugt, das eine Religion sehr viel mächtiger ist, als eine Ideologie.

Das Gespräch mit Michel Houellebecq gehört tatsächlich zum Besten, das der Spiegel seit Jahren abgedruckt hat. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Houellebecq anmerkt, dieses sei sein letztes Interview. Er mag keines mehr geben. Seine Intuition befände sich gewissermaßen „auf der Suche unterhalb des Vernünftigen.“ Was für ein toller Schlusssatz für einen Blick in den aktuellen Spiegel.