Tichys Einblick
Keine Gebrauchsanweisung

DER SPIEGEL Nr. 38 – Klüger wählen

Wie will diese Ausgabe ein Wegweiser sein, wenn der SPD über die Titelgeschichte hinaus drei eigene Beiträge gewidmet sind, der FDP und der AfD jeweils einer? Wenn der Redaktion zur CDU nicht mehr einfällt als zwei Spalten zur Wahlkampagne?

Endlich: Erst Recep Tayyip Erdogans Tipp für die Bundestagswahl an seine in Deutschland wählenden Landsleute, dann der Wahl-O-Mat und nun greifen in Berlin und Hamburg die profiliertesten aller Besserwisser zur Feder und überreichen uns den heißersehnten Wegweiser für die Bundestagswahl. „Klüger wählen“, heißt die Aufforderung. Die Titelgeschichte „Sicherheit und Wut“ schreibt alles zusammen, was bisher in Interviews und Portraits substanziell ausgelassen wurde. Das Stück kann insofern nicht als „Gebrauchsanweisung“ gelesen werden, als die Gegenüberstellung von Positionen nur allzu willkürlich wirkt. Wie können sich Wahlbürger klug entscheiden, wenn in der Ausgabe, die ein solcher Wegweiser sein will, der SPD über das Konglomerat Titelgeschichte hinaus drei eigene Beiträge gewidmet sind, der FDP und der AfD jeweils einer? Wenn der Redaktion als Entscheidungskriterium zur CDU nicht mehr einfällt als zwei Spalten zur Wahlkampagne und der nun wirklich nicht neuen Frage, ob es nicht eine zu starke personelle Verquickung von Kanzleramt und Partei im Wahlkampf gebe? Und wenn weder zur CSU noch zu den Grünen eigene Stücke im Heft sind? Was hier hätte geliefert werden müssen, schreiben die Tageszeitungen seit Wochen landauf, landab. Und das sehr viel klüger als eine Spiegel-Redaktion, die genauso in ihrem Elfenbeinturm verharrt wie die Damen und Herren Spitzenpolitiker, die nur in Wahlkampfzeiten den Weg unters Volk finden.

Ach, Spiegel!
Nicht entscheidungsförderlich ist die offensichtlich enttäuschte Liebe zur SPD und Martin Schulz. Das Interview mit dem Merkel-Herausforderer ist schon im Titel eine Backpfeife. „Klare Kante“, das erinnert an den unglücklichen „Klare-Kante-Peer“ Steinbrück. Wenn das gewollt ist, wäre es ein Affront, wenn es passiert ist, unentschuldbar. Ich habe mich nur gefragt, warum die Redaktion nicht die Gunst der Stunde genutzt hat, über die aktuellen Themen wie EU, Euro und Junckers Vorschläge zur Euro-Expansion zu sprechen. All die Zukunftsthemen, die im TV-Duell nicht gestellt wurden, was zu Recht beklagt wurde, tauchen hier wieder nicht auf. Alles Theater! Dabei hätte Schulz doch ohne weiteres noch einige seiner bisher verheimlichten zentralen Fragen den Spiegel-Redakteuren in den Block diktieren können. Stattdessen geht es lang und breit darum, ob eine Fortsetzung der „Groko“ Fluch oder Segen für die Zukunft der SPD ist. Das mag für die SPD eine wichtige Frage sein, aber nicht für den unentschlossenen Wähler.

Erfrischend zu lesen ist Markus Feldenkirchens Beitrag „Selfiemademan“ über Christian Lindner, der die FDF aufgehippt hat und doch in der Nachfolge von Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann nicht aus der alten FDP-Haut kann. Alice Weidel, Spitzenkandidat der AfD, regt sich darüber auf, dass die Medien bis nach Biel vordringen, ihren aktuellen Wohnort in der Schweiz, in der bekanntlich so fast alles besser ist und die Steuern niedriger sind.

Was die Redaktion Martin Schulz nicht gefragt hat, muss Peter Müller beantworten. Der Kommentar „Aus der Zeit gefallen“ verliert sich in Gedanken zum Juncker-Vorschlag, in Polen, Bulgarien und Rumänien den Euro einzuführen. Überflüssig und substantiell dem Thema nicht angemessen.

Im Interview „VW lässt uns im Stich“ spricht Dirk Weddigen von Knapp – als Vorsitzender des Volkswagen und Audi Partner Verbands vertritt er 1.330 Händler und 970 Servicepartner – über den Umgang der VW-Topmanager mit Ihren Händlern und Kunden. Bei so viel Dilettantismus seitens des Automobilkonzerns müssen wir ernsthaft um dessen Überleben fürchten.

Aber – es gibt noch Gewinner! Die Metropolregionen entfalten ihre Anziehungskraft immer mehr. Was ein Zugewinn an Urbanität ist, bedeutet gleichzeitig Verteilungskampf. „Enger, dichter, besser“ hätte zusammen mit der Kaffeegeschichte „Die Billionen-Bohne“ einen interessanten Lifestyle-Titel ergeben können.

Und noch ein Gewinner. Willi Passmann hat den Vogel abgeschlossen: Mit 99 Jahren ist er der wohl älteste Schützenkönig der Welt. Ein Jahr lang wird er nun als Willi I. zusammen mit seiner Ehefrau Ursel in Gummersbach Steinenbrück regieren. Der Sonntagsleser gratuliert und wünscht beiden eine gute Zeit auf dem Schützenthron.