Tichys Einblick
Kampf um einen Toten

DER SPIEGEL Nr. 26: Das vergiftete Erbe des Helmut Kohl

Eigentlich ist der Umgang mit Kohl die Tragik des SPIEGEL: Sie haben den Mann schlicht falsch eingeschätzt und den Lesern buchstäblich jahrzehntelang ein falsches Bild vermittelt. Sich zu korrigieren, wäre Größe. Nachzutreten ist billig.

DER SPIEGEL hat es geschafft und Helmut Kohl „ausgesessen“. Jetzt zu dessen Tod steht der Politiker im Zentrum des Heftes, der meiner Generation mit der Wiedervereinigung eine historische Tür öffnete, die wir nie gewagt hätten, für uns selbst zu Lebzeiten zu erhoffen, so groß, wie man weltbewegende Ereignisse sonst nur aus den Geschichtsbüchern kannte und gleich mit der Gewissheit, dass die Bedeutung dieser Leistung künftige Geschichtsbücher füllen würde. Legendär war und ist die gegenseitige Abneigung. DER SPIEGEL bekämpfte Kohl und prägte das Bild von ihm, das nachwirkt: Dumm, dumpf, am Ende hat er auch noch falsch geheiratet. Ein tumber Tor, als den ihn der SPIEGEL mehr karrikierte als analysierte, hätte niemals diese Gestaltungskraft und Größe entfalten können, die er unzweifelhaft entwickelt hat. Man muss kein Kohl-Verehrer sein, aber eigentlich ist der Umgang mit Kohl die Tragik des SPIEGEL: Sie haben den Mann schlicht falsch eingeschätzt und den Lesern buchstäblich jahrzehntelang ein falsches Bild vermittelt. Sich zu korrigieren, wäre Größe. Nachzutreten ist billig.

Da die Hamburger immer das letzte Wort behalten wollen, wähnt sich die Redaktion dazu befugt, ihre Beziehung zum Pfälzer zu einem Gesamtüberblick über das Leben und Wirken von dem oder zumindest von einem der imposantesten Nachkriegspolitiker anzuhäufen. Gut nur, dass sie nicht nur im eigenen Saft badet, sondern auch aus externer Perspektive schreiben lässt: Emmanuel Macron reflektiert die Versöhnungsleistungen, Redaktionsliebling Sigmar Gabriel über Ideologien, politische Lager und den Machtmenschen Kohl, Michail Gorbatschow über Vertrauen und Martin Walser mit einem Totengesang.

Eines jedenfalls ist nach diesem wohl letzten (?) aller Kohl-Titel klar. In ihren Giftschränken fanden die SPIEGEL-Redakteure nichts, was sie ihren Lesern als Neuigkeit präsentieren konnten oder wollten. Am schwächsten unter den verschiedenen Stücken ist die Titelstory der Redaktion „Der letzte Akt“. Die Redaktion hat sich vom Mainstream anstecken lassen – hier die böse Witwe, dort der trauernde Sohn, den man daran zu hindern versucht, Abschied von seinem Übervater zu nehmen. Ein Stück voller Spekulationen. So ist der Titel – wie zuletzt so oft – eine Mogelpackung. Der Beweis, warum das Erbe vergiftet sein soll, wird nicht erbracht. Maike Kohl-Richter ist keine durchgeknallte Furie, sondern die von Kohl eingesetzte Sachwalterin, die nicht böswillig, sondern im Sinne des Pfälzers über sein Erbe wacht, ob Familie, Partei, Redaktionen, und Wissenschaftlern das gefällt oder nicht. Zudem ist die berechtigte Frage zu stellen: Wem gehört das Andenken und wer darf deuten? Jegliche geschichtliche Aufarbeitung ist interessengetrieben. Und wenn die Person Helmut Kohl die bundesdeutsche Öffentlichkeit eines gelehrt hat, dann das: Urteile nie nach dem ersten Anschein. Und schon gar nicht, was DER SPIEGEL über eine Person schreibt.

In einer solchen Stunde hätte ich eine gewisse Größe erwartet: Die Birnen-Kampagne, mit der der Spiegel jahrelang auf Kohl einhämmerte, war meiner Meinung nach eines der schändlichsten Kapitel im Journalismus. Der einzige, der dazu ein Wort des Bedauerns äußert, ist Sigmar Gabriel („Pater und Pate“), der zum Thema Spott und Häme schreibt: „… kein Vorstandsvorsitzender eines Unternehmens hätte dieses mediale Trommelfeuer in Wort und Bild mehr als drei Monate ertragen!“

Besonders hervorzuheben ist der Nachruf von Michail Gorbatschow („Er war stolz auf seine Rolle“), der Kohls Fähigkeit lobt, „auf Partner einzugehen, seine Erfahrung, wie man von Feindschaft übergeht zu Kooperation und Vertrauen – das sind unschätzbare Werte in einer Zeit, da die internationale Lage auf das Gefährlichste angespannt ist.“ Die beste Weise, Helmut Kohls zu gedenken wäre sich an dieser Erfahrung ein Beispiel zu nehmen.

Michael Sontheimer hätte besser geschwiegen. In seinem Nachruf „Kein Glücksfall“ desavouiert er nicht Helmut Kohl, sondern sich selbst. Weit entfernt von der Größe Peter Sloterdijks, der im Interview – zu seinem 70. Geburtstag geplant und zum Tode des Altkanzlers natürlich auch befragt – Kohl in „Die hohe Kunst der Asozialität“ eine Handlungskraft beimisst, die andere nicht gehabt hätten. „Wenn das Gewicht eines Menschenlebens an der Summe seiner Taten gemessen wird, dann kann man Kohl eine gewisse Größe nicht absprechen. Das gilt auch dann, wenn er eigentlich nicht ein Täter aus eigenem Recht war, sondern jemand, der die nötige Geistesgegenwart besaß, eine zufällige Chance zu ergreifen.“ Es sei gut und richtig, Kohl jetzt als großen Staatsmann zu würdigen. Und schließt ein Bekenntnis an, das man sich ähnlich von anderen auch gewünscht hätte: „…rein biografisch für mich gesprochen, würde ich eher sagen, man soll seinen Antipathien treu bleiben“. Auf Nachfrage der SPIEGEL-Redaktion: „Warum?“, antwortet Sloterdijk: „Schon aus Respekt vor der eigenen persönlichen Kohärenz“.

Bei Nils Minkmar mutiert Helmut Kohl in „Er war ein anderer, hier wie dort“ zu einer janusköpfigen Gestalt, den Übervater der Nation, der in den Zeiten der Wiedervereinigung gebraucht wurde, allerdings in einer Zeit, in der das Paternalistische bereits auf dem Rückzug war – was auch sein persönliches Drama ausmachte – und den Weg freimachte für ein neues Lebensgefühl und einen neuen Politikstil.

Der Nachruf Martin Walsers „Wir haben zu danken“ ist ein Totengesang, im Duktus ähnlich den großen Gesängen der hellenistischen Welt. „Ich bräuchte den Hexameter, den vielfüßigen, für den Gesang, der Kohliade heißt: ein Abschied.“ Teilweise faszinierend zu lesen, teilweise aber auch eine sehr persönliche Abrechnung mit dem einen oder anderen. Wie es wohl das Privileg verdienter Persönlichkeiten ist, denen man aus Respekt Narrenfreiheit lässt, mit allen Wahrheiten, die die Narretei enthält. Sein Bekenntnis: „Ich feiere Kohl, weil ich erlebt habe, wie aus Lebendigkeit der Fels geworden ist, der dem Entsetzlichen gewachsen ist.“

Eines fällt an allen Stücken auf: Es sind immer dieselben Themen, die aus verschiedenen Perspektiven beschrieben werden: der nicht verzeihende Machtmensch, die Aussöhnung mit Frankreich, der Euro und die Wiedervereinigung. So groß Kohls Verdienst um die Wiedervereinigung war, es war auch ein Wendepunkt im politischen Diskurs, der bis heute anhält: der Beginn der angeblichen „Alternativlosigkeit“. Wenn für die Wiedervereinigung das Geld fehlt, dann wird den Schäubles und Waigels schon was einfallen, die Rentenkassen werden geplündert, der Solidaritätszuschlag eingeführt. Später wird das Tafelsilber verkauft, die Börsengänge von Post und Telekom spülen etliche Milliarden in die Kassen. Ist doch eigentlich wurscht, oder? Hauptsache, es klappt. Und die Menschen haben Arbeit, Lohn und Brot. Historiker werden Jahrzehnte zu tun haben, um die vielfältigen Aspekte der Regierungszeit von Helmut Kohl als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und als Bundeskanzler zu ergründen.

Es hätte gut getan, hier die soziale und wirtschaftliche Entwicklung zu beschreiben, die Deutschland unter Kohl genommen hat.

Zum Schluss: In der letzten Ausgabe titelte der SPIEGEL: „Hauptstadt Hamburg. Elbphilharmonie, G-20-Gipfel, Schanzenviertel – Comeback einer Metropole“. Dabei handelte es sich – wir stellten es vorige Woche schon fest – doch eher um einen redaktionellen Tunnelblick. An diesem Wochenende lese ich auf dem Titelblatt des an derselben Adresse residierenden Schwesterblatts Manager Magazin „Hamburg. Zu satt, zu lahm: Die Stadt versinkt im Mittelmaß“ und müsse aufpassen, so kommentiert Chefredakteur Steffen Klusmann im Editorial, „dass sie nicht zur Kulisse für Gipfel und Hafenrundfahrten degeneriert.“ So viel Medienmachermeinungsvielfalt auf die Ericusspitze getrieben!