Tichys Einblick
Der Giftanschlag und der neue Kalte Krieg

DER SPIEGEL Nr. 12 – Todesgrüße aus Moskau

Die Welt wird in Gut und Böse aufgeteilt. Aber trifft es das? Auch wenn es immer wieder Drohungen von Putin persönlich gegen ‚Verräter‘ gab, ist die Urheberschaft nicht ausgemacht.

Das Schöne an James-Bond-Filmen ist, dass sie so vorhersehbar sind und dennoch immer spannend bleiben: das Gute, das Böse, der Flirt, der oder die Verbündete, ein Opfertod, die Rettung in letzter Minute, die Verführung. Dazu eine exotische Kulisse, Fortbewegungsmittel, die Verfolgungsjagden erlauben, und Technik, viel Technik. Und weil es ein so vorhersehbares Eintauchen in sonst verborgene Welten verspricht, lieben die Menschen die Filme. „Liebesgrüße aus Moskau“ ist ein Klassiker unter den James-Bond-Streifen. Der Anschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal lädt geradezu zu dem Wortspiel auf dem Titel ein. „Der Giftanschlag“, von Christian Esch und seinen Kollegen akribisch recherchiert, zeichnet das Geschehen in Salisbury nach, informiert über die giftige Chemikalie, die vermutlich für den Anschlag verwendet wurde, zieht Verbindungen zum russischen Geheimdienst und zu vergleichbaren Fällen. Die Welt wird in Gut und Böse aufgeteilt. Aber trifft es das? Auch wenn es immer wieder Drohungen von Putin persönlich gegen ‚Verräter‘ gab, ist die Urheberschaft nicht ausgemacht. Denn eines fehlt in dem Beitrag: der Beweis, das Skripal zu den Guten gehört. Alles ist möglich. Den Eindruck jedenfalls vermittelt das Interview „London ist ein Schlachtfeld“ mit dem Erfinder der BBC-Serie McMafia, Micha Glenny, über russische Stellvertreterkriege auf britischem Boden.

Christiane Hoffmann beschreibt „Das Matriarchat“. Ihre These: Angela Merkel habe das Verhältnis der Geschlechter in der Politik mehr verändert als Feminismus und Frauenquote zusammen – aus Machterhalt. Nicola Abé, Tobias Lill, Ann-Katrin Müller und Christian Teevs machen „Das große Fressen“ bei Grünen und Linkspartei aus. Sie wollen offen in die Pfründe der SPD eindringen, allerdings mit unterschiedlichen Zielen. Denn anders als Sarah Wagenknecht glaubten die Grünen, so die Autoren, nicht mehr an eine linke Machtoption.

Nach der Vereidigung der neuen Regierung braucht der Spiegel noch Orientierungszeit für die politischen Themen. Die Redaktion versucht sich in dem einen oder anderen Arbeitsauftrag. Mehr Umweltpolitik für die neue Ressortchefin Svenja Schulze, am besten gleich für die gesamte Regierung („Ökonomie vor Ökologie“ von Veit Medick und anderen), weniger Ungerechtigkeiten in der Krankenversicherung („Ganz unten“ von Cornelia Schmergal über Privatversicherte im Notlagentarif) für Jens Spahn. „Mehr Schaden als Nutzen“ stellt Christian Reiermann bei dem Vorhaben der EU-Kommission fest, US-Digitalfirmen wie Facebook und Google gerechter besteuern zu wollen. Denn das könnte auch für deutsche Unternehmen unangenehme Auswirkungen haben, nämlich dann wenn die Besteuerung virtueller und ‚klassischer‘ Geschäfte gleichgestellt wird. Arbeitsauftrag für Finanzminister Scholz: ein Neuanfang.

Frank Dohmen analysiert in „Zurück zum Monopol“ kurz und kundig die Auswirkungen des Deals zwischen Eon und RWE. Was Eon-Chef Teyssen als einen der „kreativsten Gestaltungsdeals der deutschen Wirtschaftsgeschichte“ lobt, stellt sich für Dohmen als „zwei gewagte Wetten auf die Entwicklung des Energiemarkts“ dar. Spannend.

Hannah Knuth und Christian Reiermann erklären in „Der Fortschritt ist eine Schnecke“, wie und wo Produktivitätswachstum entsteht. Dies ist allerfeinster Wirtschaftsjournalismus und sollte Pflichtlektüre im Schulfach Wirtschaft werden.
Miriam Meckel, Herausgeberin der Wirtschaftswoche, verheißt in ihrem neuen Buch Mein Kopf gehört mir. Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking aufregende Zeiten: Computer lesen unsere Gedanken, Hirnimplantate definieren die geistige Elite, der Leser braucht gar nicht mehr zu lesen, sondern guckt dem Verfasser einfach in den Kopf und erfährt dann alles. Manfred Dworschak fragt sich in „Diktatur der Turbodenker“ ungläubig, wie man auf derart absurde Visionen kommt und liest den Schwarzmalern der digitalen Zukunft sehr erfrischend die Leviten. Im Übrigen: Die Ideen von Frau Meckel sind weder besonders originell noch neu. Wer John Scalzi gelesen hat, weiß das schon lange. Aber der steht dazu, dass seine Bücher zum Science-Fiction-Genre gehören. Und – wollen wir wirklich alles wissen? Auch, was im Kopf von Autoren und Herausgeber(inne)n vor sich hin gärt?