Tichys Einblick
Die Eurokraten zittern um ihren Einfluss

In London gibt es ein freies Parlament

Die gute Nachricht geht angesichts der Tatarenmeldungen von einem „harten Brexit“ quasi unter, aber sie ist bedeutend. Die älteste und traditionsreichste Institution westlicher Demokratie – sie lebt. Die Abgeordneten des britischen Parlaments lassen sich von niemandem sagen, wie sie abzustimmen haben. Das ist seit den Zeiten der Magna Charta so. Und es gilt auch im Jahre 2019.

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Das britische Parlament hat den Brexit-Deal mit 202 zu 432 Stimmen abgelehnt. Auch rund ein Drittel der Tories verweigerte in der entscheidenden Abstimmung zum Brexit der Premierministerin May die Gefolgschaft, ein Misstrauensvotum ist bereits angekündigt. Ob der „Deal“, den May aus Brüssel mitbrachte, akzeptabel ist, mag dahinstehen. Denn das Mandat des Abgeordneten ist frei. Und so kann es sein, dass die Brexit-Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien, die die Polit-Funktionäre diesseits und jenseits des Ärmelkanals einhellig begrüßt haben, nun an einer unerwarteten Kraft scheitern: am freien Willen unabhängiger, demokratisch gewählter Parlamentarier.

Ein besonders schöner Vorschlag, was denn die britischen Parlamentarier an sich und sein Souverän, das britische Volk also, zu denken hätten, kommt von einem, der sich nach den letzten Bundestagswahlen für ein paar Wochen schon als Bundesaußenminister fühlen durfte – Cem Özdemir. Der tat, was auch der US-Präsident tut. Er twitterte: „‚Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war’ – so Bertolt Brecht. A ist der #Brexit. B, der #BrexitDeal hat keine Mehrheit. Chaos durch #NoDealBrexit ist unverantwortlich. Es braucht jetzt Mut für zweites Referendum & dann Kampf für #Remain.”

Für Menschen, die der deutschen Grammatik noch mächtig sind, muss ein solcher Buchstabensalat übersetzt werden. Eine freie Übersetzung könnte in etwa lauten: „Berthold Brecht ermuntert uns zu zivilem Ungehorsam. Nun macht mal schön den Brexit rückgängig, liebe Brexit-Gegner. Ihr dürft auch gern etwas handfest zur Sache gehen, ein bisschen Gewalt gegen Sachen ist akzeptabel, wenn es um ein höheres Ziel geht. EU-Funktionäre und die Interessen des Kontinents sind allemal wichtiger als ein demokratisch gewähltes Parlament in London.“

Donald Tusk, Merkels aus Polen stammender Lieblings-EU-Ratspräsident, stieß per Twitter in dasselbe Horn, allerdings blieb er sehr vage: „Wenn ein Deal unmöglich ist und niemand einen No-Deal will, wer wird den Mut haben zu sagen, wie die einzige positive Lösung aussieht?“ Ob er gemerkt hat, dass er dabei komplett den Willen des britischen Parlaments übergangen hat. Dort sitzen keine Holzköpfe, die die Nachteile eines harten Brexit nicht erkennen können. Nein, dort sitzen frei gewählte Parlamentarier, die die wohlverstandenen Interessen derer, die sie gewählt haben, vertreten.

Schon warnen in Deutschland die Leitmedien vor dem Ausgang der kommenden Europawahl. Die Süddeutsche Zeitung beobachtet: „Es wird immer verführerischer werden, sich innenpolitisch durch eine harte Linie gegenüber den Briten zu profilieren. Die Fliehkräfte dürften sich weiter erhöhen, wenn einzelne Regierungen bei der Europawahl abgestraft werden und Populisten triumphieren.“ Die Regierungschefs müssten dann, das weiß der in München sitzende Beobachter ganz genau, „der Verführung widerstehen“. Die vereinten Europäer „müssen beweisen, dass sie verantwortungsvoller agieren, als es die politische Klasse in Großbritannien seit Jahren tut“. Womit unterschwellig gleich auch dem britischen Parlament unverantwortliches Handeln unterstellt wird.

Doch die große Tageszeitung aus München gibt nur wieder, was in Europa derzeit überall zu beobachten ist: Angst und Verzagtheit herrschen angesichts der kommenden Wahl, die demokratische Bestimmung neuer EU-Parlamentarier wird als Gefahr wahrgenommen. Das Gute vom Tage ist angesichts dessen die Nachricht, dass zumindest in London noch ein Parlament zu finden ist, in dem es nicht um Posten, Pfründe und fette Beute geht. Ein Parlament, dessen gewählte Mitglieder sich ihr Mandat von niemandem aus der Hand nehmen lassen.